Geschäftsbericht Neustadt bei Leipzig zum Jahr 1885
Neustadt bei Leipzig war ganze neun Jahre (von 1881 bis 1889) eine selbständige Gemeinde und hat als solche natürlich auch interessante jährliche Geschäftsberichte der Gemeindeverwaltung verfasst und herausgegeben. Die Geschäftsberichte liegen heute im Stadtarchiv Leipzig vor und wurden damals zum Teil auch im Reudnitzer Tageblatt, als Amtsblatt der Gemeindevorstände und Gemeinderäte zu Reudnitz, Neustadt, Anger-Crottendorf und Neusellerhausen (allerdings in deutscher Fraktur, siehe rechts) abgedruckt.
Vor etwa 130 Jahren erschien am 27. Februar 1886 im Reudnitzer Tageblatt, VIII. Jahrgang, Nr. 32 der
Geschäftsbericht der Gemeindeverwaltung zu Neustadt bei Leipzig auf das Jahr 1885.
[Weil nicht jeder heute die Frakturschrift lesen kann, habe ich den vollständigen Text mal kurz in Latein abgetippt und Kommentare zur Illustration angefügt.]
1. Gemeindeverwaltung.
Die Geschäfte des Gemeinderates wurden in 16 Plenarsitzungen erledigt. Außerdem fanden insgesamt 37 Ausschußsitzungen statt, von denen 9 auf den Finanz-, 19 auf den Bau-, 4 auf den Wohlfahrts- und 5 auf den Steuerausschuß entfielen. An kombinierten Ausschußsitzungen in Sachen der Regulierung der Eisenbahnstraße fanden 8 statt. [Kommentar 1 zur Eisenbahnstraßenregulierung]
Die Verwaltungsregistrande weist 2 851 Nummern nach. Aus dem Gemeinderate schieden vor Ablauf ihrer Wahlperiode die Herren Friedrich und Risse; an deren Stelle traten die Herren Nachbar und Meinig.
Die Beleuchtung der Ortsstraßen mittels 40 Petroleumlampen wurde nach Abschluß eines Vertrages mit der Thüringer Gasgesellschaft vom 1. September ab durch Gas ersetzt und die Laternen auf 90 vermehrt.
Nachdem Anfang Juni eine Wasseranlage beschaffen, begann die permanente Besprengung der Ortsstraßen. [Kommentar 2 zur Straßenbesprengung]
An steuerlichen Personen zählte Neustadt 2 735. Hierzu kamen im Laufe des Berichtsjahres 1 035 Personen, dagegen kamen 760 in Wegfall. Erstere sind mit einem Gesamteinkommen von 2 370 182 Mk. veranlagt, wovon 244 824 Mk. auf Grundbesitz, 38 054 Mk. auf Kapitalzinsen, 1 505 322 Mk. auf Gehalt und festen Lohn und 581 982 Mk. auf Handel und Gewerbe entfallen. Hierzu treten 36 auswärtig wohnende Besitzer hiesiger Grundstücke mit einem hieraus versteuerten Einkommen von 94 100 Mk. und 15 Besitzer von hiesigen Handels- und Gewerbe-Etablissements mit einem hieraus zu versteuernden Einkommen von 115 000 Mk. Die abzugsfähigen Schuldzinsen betrugen 150 000 Mk., so daß als steuerpflichtiges Einkommen 2 429 282 Mk. verbleiben. Die Einnahmen der Steuern beliefen sich bei den Gemeindeanlagen auf 55 422 Mk., Staatseinkommenssteuer auf 18 779 Mk., Grundsteuer auf 5104 Mk., Brandkasse auf 5 162 Mk., katholische Kirchenanlagen auf 221 Mk., Handels- und Gewerbekammer-Beiträge auf 83 Mk. Zahlungsauflagen wurden erlassen über rückständige Einkommenssteuer 2 237 Mk., über rückständige Gemeindeanlagen 1 520 Mk., über rückständiges Schulgeld 451 Mk., in Sa. 4 208 Mk. An Gebühren für die Zahlungsauflagen gingen ein 403 Mk. An Hundesteuer wurden 842 Mk. vereinnahmt. Der Vollstreckungsbeamte erhielt 1 334 Pfändungsaufträge und erlangte 5 300 Mk. An Kosten und Gebühren wurden 980 Mk. beigetrieben. Abgaben bei Besitzveränderungen wurden 1 116 Mk. vereinnahmt.
Unterstützungen wurden gewährt an 47 Personen, davon sind 26 hier Ortsangehörige, 14 Landarme und 7 anderwärts Ortsangehörige. Außerdem sind für 24 Personen inkl. Waisenkinder an andere Armenverbände, innerhalb derselben wohnhaft, aber hier ortsangehörig, Unterstützungen gewährt worden.
Das Ergebnis der am 1. Dezember stattgefundenen Volkszählung ergab in 195 bewohnten Vorder- und 53 Hintergebäuden mit 1 691 Haushaltungen 3 868 männliche und 3 823 weibliche, insgesamt 7 691 Personen. [Kommentar 3 zu Einwohnerzahlen im Leipziger Osten]
2. Polizeiverwaltung.
Die Registrande weist 2 130 Nummern nach. Die Sportelkasse vereinnahmte in 3 426 Posten 1 563 Mk. [Sportelkasse, siehe Erläuterung in Kommentar 4]
Anmeldungen sind 1 414 und Abmeldungen 1 120 zu verzeichnen.
Ausgestellt wurden:
an Wohnungsanmeldescheinen 1 258,
an Verhaltsscheinen und Führungsattesten 670,
an Beglaubigungen 96,
an Dienstbüchern 23,
an Arbeitskarten 4,
an Gewerbeanmeldescheinen 68,
an Musik- und Tanzerlaubnisscheinen 216,
an Armutszeugnissen 83, [siehe Erläuterung in Kommentar 5]
Zeugnissen und Bescheinigungen verschiedener Art 131.
Strafverfügungen wurden 241 gegen 176 im Vorjahre und 122 Strafauflagen erlassen.
An Strafgeldern wurden 527 Mk. vereinnahmt. [Kommentar 6 zu polizeilichen Aktivitäten]
Die Abstempelung der Polizen für Mobilarversicherungen hat 143 Mk. ergeben.
Die Impfliste weist 810 Nummern gegen 700 Nummern im Vorjahre nach.
An Bauanmeldungen sind 20 zu verzeichnen, hiervon beziehen sich 9 auf hohe Vorderhäuser.
Ein Regulativ über Treppenbeleuchtung wurde eingeführt und trat seit 1. Januar d. J. in Kraft. [Kommentar 7 zur Treppenbeleuchtung]
3. Standesamt.
Registrande: 178 Nummern.
Die Amtshandlungen bestanden in:
404 Geburtsregistereinträgen gegen 433 im Vorjahre,
214 Sterberegistereinträgen gegen 286 im Vorjahre,
82 Aufgebotsverhandlungen gegen 75 im Vorjahre,
82 Eheschließungen gegen 69 im Vorjahre.
An Standesamtsgebühren wurden 92 Mk. vereinnahmt.
Kommentar 1 zur Eisenbahnstraßenregulierung:
Reudnitzer Tageblatt, Montag, den 7. September 1885, auf Seite 2 wird über den 1. Spatenstich zur Neugestaltung der Eisenbahnstraße berichtet. Dabei wird angemerkt, dass es im Vorfeld beinahe zu einem Eklat gekommen wäre, weil Neuschönefeld mit dem bestehenden alten Straßenkörper der Eisenbahnstraße nicht mit den Kostenanschlägen von Neustadt zu einer gemeinsamen, wesentlich breiteren Straße einverstanden gewesen war. Da hätte es im Jahr 1885 beinahe zwei parallele Eisenbahnstraßen gegeben (!)
Kommentar 2 zur Straßenbesprengung:
Reudnitzer Tageblatt, Sonnabend, den 13. Juni 1885, auf Seite 2: ,,Heute Morgen passierte der neuangeschaffte Sprengwagen zum ersten Male die Straßen unseres Ortes.“ Der Hintergrund war, dass bis dahin die meisten Straßen von Neustadt noch nicht gepflastert waren und besonders bei Trockenheit und Hitze (z.B. im Sommer) ständig Staub aufgewirbelt wurde.
Kommentar 3 zu Einwohnerzahlen im Leipziger Osten im Jahr 1885:
Neuschönefeld 6.142
Neustadt 7.691
Reudnitz 19.019
Schönefeld 4.343
Sellerhausen 4.899
Volkmarsdorf 12.741
Kommentar 4 zur ,,Sportelkasse“:
Kasse für Nebengebühren bei Gerichtsämtern oder Verwaltungsbehörden.
Kommentar 5 zum ,,Armutszeugnis“:
behördliche Beglaubigung des Anspruchs auf Armenrecht.
Kommentar zu 6 polizeiliche Aktivitäten:
Reudnitzer Tageblatt, Freitag, den 13. März 1885, auf Seite 1: ,,Neustadt. In der vergangenen Nacht gegen 1 Uhr entspann sich in einem Restaurant am Markt eine solenne Prügelei. Da das Lokal schließlich zu eng wurde, begaben sich die Exzedenten auf die Straße, allwo sie unbehelligt die entstandenen Meinungsdifferenzen mit Stöcken ausgleichen konnten.“ [Exzedenten – Übeltäter, Unfugstifter]
Reudnitzer Tageblatt, Mittwoch, den 24. Juni 1885, auf Seite 1: ,,Bekanntmachung. Mit Rücksicht auf den zunehmenden Verkehr mit Velocipedes auf öffentlichen Wegen … folgende Bestimmungen zu treffen:
- Zum Fahren mit Velocipedes darf nur die Fahrbahn eines öffentlichen Weges benutzt werden.
- Das Fahren mit Velocipedes auf Fußwegen bez. Trottoirs, Promenaden und öffentlichen Plätzen ist verboten.
… 6. Bei Zuwiderhandlung Geldstrafe 60 Mk. oder Haft bis zu 14 Tagen
Leipzig, den 2. Juni 1885 Königliche Amtshauptmannschaft
Dr. Platzmann
Kommentar 7 zur Treppenbeleuchtung:
Reudnitzer Tageblatt, Montag, den 2. November 1885, auf Seite 2: Gemeinderatssitzung Neustadt.
,,Dem in letzter Sitzung gestellten Antrage, die Einführung der obligatorischen Treppenbeleuchtung betreffend, wird Zustimmung erteilt.“
dazu kurz darauf eine Zeitungsglosse, Reudnitzer Tageblatt, Freitag, den 8. Januar 1886, auf Seite 2: ,,Neustadt. Hatten wir bisher das Gerücht, wonach unser wohllöblicher Gemeinderat die Treppenbeleuchtung mit nur einer Lampe für jedes Grundstück beschlossen habe, für eine Ironie hinsichtlich der vielerlei Arten der in mehreren Gemeinden zur Einführung gelangten Treppenbeleuchtung gehalten, so sind wir doch durch das veröffentlichte Regulativ eines anderen belehrt, indem dasselbe wirklich besagt, daß Hausfluren und Treppen bis abends 9 Uhr mit mindestens einer Lampe zu erleuchten sind.“ [in der Regel ein Petroleumlämpchen]
,,Wir erlauben uns, an unsere Gemeindeväter die ergebene Bitte zu richten, eine Kommission aus ihrer Mitte zu ernennen, die der Einwohnerschaft das Kunststück vormachen soll, mit dieser mindestens einen Lampe ein vierstöckiges Grundstück genügend zu beleuchten. Wir sind der festen Überzeugung, daß den Herren für das Gelingen dieser dann außerordentlichen Leistung die verdiente Anerkennung nicht versagt wird.“