Der Listplatz heißt eigentlich ,,Friedrich-List-Platz“ – er wurde (siehe Straßenschild rechts) nach dem Volkswirtschaftler und Initiator des Baus der Leipzig-Dresdner Eisenbahn Daniel Friedrich List (1789-1846) benannt.
Warum dieser unscheinbare dreiseitige Platz mit diesem Namen an dieser Stelle im Leipziger Osten perfekt richtig liegt, das möchte ich im Folgenden erklären …
1. der Eisenbahnpionier
Friedrich List war ein vielseitig interessierter und sehr reger Geist. Dabei war er nicht nur Volkswirtschaftler, sondern war als echter Quereinsteiger zeitweise und mit Erfolg auch als Beamter, Professor, Politiker, Journalist und last but not least als Eisenbahnpionier tätig. [Quelle #1]
Um die gewerbliche Rückständigkeit der deutschen Kleinstaaterei zu überwinden engagierte sich List für den Aufbau eines deutschen Eisenbahnnetzes. Im Jahr 1833 verfasste er in Leipzig eine kleine Schrift, die er in hoher Auflage kostenlos verteilen ließ: ,,Ueber ein sächsisches Eisenbahnsystem als Grundlage eines allgemeinen deutschen Eisenbahnsystems und insbesondere über die Anlegung einer Eisenbahn von Leipzig nach Dresden“. Er rechnet darin vor, dass mit der Eisenbahn ein billiger, schneller und regelmäßiger Massentransport möglich ist, der förderlich für die Entwicklung der Arbeitsteilung, die Standortwahl gewerblicher Betriebe und letztlich auch für einen höheren Absatz der Produkte ist.
Daraus zwei Zitate:
Seite 22: ,,… Man bedenke nur, wie hoch die Zahl der Meßfremden, der Bade- und Lustreisenden anwachsen würde, könnte man von Nürnberg, Frankfurt, Hamburg und Prag in Einem Tag für etwa 5 buis 6 Thaler; von Braunschweig, Magdeburg etc. in einem halben Tag für 2 bis 3 Thaler; von Dresden in 3 Stunden für 1 bis 2 Thaler dazu noch ohne alle Reisebeschwerde, wie in einer Sänfte getragen, nach Leipzig kommen.“
Zur bisher üblichen Hin- und Herreise von 5 Tagen zu Fuß auf der Route von Leipzig nach Dresden und zurück schreibt er auf Seite 34: ,,… Seine Zehrung unterwegs bestreitet er [als Beispiel der Tagelöhner] nicht unter 8 Groschen täglich oder 40 Gr. im Ganzen. Folglich kostet ihn die Fußreise wenigstens 3 Thaler 8 Gr. Auf der Eisenbahn bezahlt er Fuhrlohn hin und her 1 Thaler 12 Gr … nur ungefähr die Hälfte der Kosten einer Fußreise.“ [Quelle #2]
Alle Achtung, unserer Vorfahren haben am Tag noch bis zu 40 km zu Fuß zurückgelegt, das würde heutzutage wohl manches Übergewicht schnell abbauen 😉
Mit der Inbetriebnahme der Leipzig-Dresdner Eisenbahn 1839 kam es zur Verwirklichung der ersten deutschen Ferneisenbahnstrecke. Diese Eisenbahnstrecke verlief von 1839 bis 1879 vom früheren Dresdner Bahnhof in Leipzig (etwa von der Osthalle des heutigen Hauptbahnhofs) in einem Bogen – ja, Sie vermuten richtig, an der Nordseite des heutigen Listplatzes vorbei – in gerader Linie in Richtung Osten über die früheren Felder des Ritterguts Schönefeld nach Dresden.
2. am Bahnkreuz
Zum Dresdner Bahnhof kamen schließlich in Leipzig noch der benachbarte Magdeburger Bahnhof (1840), ein Stück weiter westlich der Thüringer Bahnhof (1857), etwas nördlicher der Berliner Bahnhof (1859), im Süden der Bayerische Bahnhof (1842) und später im Osten der Eilenburger Bahnhof (1874) hinzu.
Um die Bahnhöfe und betreffenden Eisenbahnstrecken untereinander und ohne umzusteigen zu verbinden waren noch diverse Streckenverbindungen erforderlich. Aus dem folgenden Planausschnitt der nordöstlichen Leipziger Umgegend aus der Zeit um das Jahr 1860 wird ersichtlich, dass diese Verbindungsbahnen vom Thüringer, Magdeburger und Berliner Bahnhof in Richtung Süden zum Bayerischen Bahnhof östlich von Leipzig die Leipzig-Dresdner Eisenbahnstrecke kreuzten (Eisenbahnstrecken rötlich eingefärbt).
Das kann man gedanklich und visuell noch gut nachvollziehen – dieses Bahnkreuz befand sich an der heutigen Ostecke der Listplatzes (grüne Fläche auf dem Plan).
Von dieser Ecke aus konnte man damals in Richtung Nordosten einem Weg (heute: Teil der Rosa-Luxemburg-Straße) entlang der Felder zwischen dem früheren Rohrteich (links) und dem Flurstück Rabet (rechts) über die Windmühle (heute: am Stannebeinplatz) nach Schönefeld folgen.
Rechts neben der Leipzig-Dresdner Eisenbahnstrecke konnte man nach dem Passieren der Rietzschkebrücke auf die parallel neben Bahnstrecke verlaufende Neuschönefelder Eisenbahnstraße gelangen, die damals bis zur Kirchstraße (heute: Hermann-Liebmann-Straße) reichte. Auf der linken Seite der Bahnstrecke befand sich damals die Dampfsägemühle von Bäßler & Bomnitz mit einem großen Holzhof.
Vom Bahnkreuz nach Südosten verlief die damalige Verbindungsbahn zum Bayerischen Bahnhof südlich der Rietzschke in Richtung Reudnitz (heute: in Richtung der Lutherstraße).
Fazit 1: Durch Friedrich List wurden die Leipziger Eisenbahnprojekte und deren Streckenführung entscheidend beeinflusst …
Ab dem Jahr 1879 wurden alle Bahnstrecken, einschließlich der Verbindungsbahn zum Bayerischen Bahnhof, auf das Areal nördlich der Wohngebiete von Neuschönefeld und dem neu entstandenen Anbau von Schönefeld (später Neustadt) verlegt. Das Dampfsägewerk an der Eisenbahnstraße wurde im Jahr 1889 abgebrochen, sodass auch dieses Areals mit Wohn- und Geschäftshäusern bebaut werden konnte.
Im Osten Leipzig gab es neben den bereits vorher existierenden Dorfgemeinden auch neue Gemeinden entlang der Eisenbahnstrecke nach Dresden, die auf den früheren Feldfluren von Schönefeld entstanden waren.
alte Gemeinden:
Reudnitz (Ersterwähnung 1248)
Volkmarsdorf (1270/71)
Sellerhausen (1335)
Crottendorf (1350)
Anger (1535)
neue Gemeinden auf ehemalig Schönefelder Flur (Schönefeld – Ersterwähnung 1270):
Neuschönefeld (erstes Gebäude 1838, selbständig 1845)
Neustadt (erstes Gebäude 1866, selbständig 1881) [Quelle #3]
In der Zeit der Gründerjahre expandierte die Bevölkerung Leipzigs –
lebten hier im Leipziger Osten im Jahr
1834 noch insgesamt etwa 3.700 Einwohner, so wurden im Jahr
1890 bereits etwa 83.500 Einwohner und im Jahr
1905 wurden über 125.000 Einwohner gezählt. [Quelle #4]
Fazit 2: … das betraf auch die Ansiedlung von Handel und Gewerbe sowie die Bevölkerungsentwicklung im Leipziger Osten.
3. die Eisenbahnstraße(n)
Zuerst gab es im Osten Leipzigs eine Eisenbahnstraße auf Leipziger Gebiet, in etwa parallel zur Leipzig-Dredner Eisenbahnstrecke (heute: im Verlauf der Dohnanyi- und einem Teil der Mecklenburger Straße), dann folgte ein Stück Eisenbahnstraße auf der Neuschönefelder Seite der Bahntrasse. Zum Zeitpunkt der Eingemeindung der meisten Ost-Vororte zur Stadt Leipzig im Jahr 1890 waren noch mehr solcher eigenständiger Eisenbahnstraßen hinzugekommen.
Da gab es eine kuriose Situation – jede Gemeinde im ,,neuen“ Leipziger Osten, die an der Strecke nach Dresden lag, hatte eine eigene Eisenbahnstraße: Leipzig, Reudnitz, Neustadt, Neuschönefeld, Volkmarsdorf und Sellerhausen. Wenn da der Postbote einen Brief in die Eisenbahnstraße 1 im Leipziger Osten ausliefern sollte, dann gab es sechs Möglichkeiten !!! 😉 😉 😉
Unmittelbar nach der Eingemeindung wurde an der Stelle aufgeräumt: die Leipziger Eisenbahnstraße wurde in Friedrich-List-Straße umbenannt, die Eisenbahnstraßen von Reudnitz, Neustadt, Neuschönefeld, Volkmarsdorf und Sellerhausen wurden zusammengefasst und einheitlich durchnummeriert. Damit war die Eisenbahnstraße als Geschäfts- und Wohnstraße insgesamt 2.170 m lang geworden, davon in:
Reudnitz (Hausnummern 2, 4, 4b) etwa 90 m,
Neustadt (Nr. 1 bis 79) etwa 800 m,
Neuschönefeld (Nr. 6 bis 82) etwa 710 m,
Volkmarsdorf (Nr 81 bis 123 und 84 bis 136) etwa 550 m und
Sellerhausen (Nr. 125 und 142 bis zum Ende) etwa 820 m.
Noch etwas mehr Statistik: im Leipziger Adressbuch auf das Jahr 1910 wurden die Einwohnerzahlen von Leipziger Straßen ausgewertet und beim genauen Hinschauen kann man feststellen, dass von den fünf bevölkerungsreichsten Straßen die Eisenbahnstraße auf Platz 1 liegt und unter den fünf Spitzenreitern drei Straßen im Leipziger Osten, mit der Ludwig- und Mariannenstraße in der unmittelbaren Nähe der Eisenbahnstraße liegen. [Quelle #5]
In den zwanziger Jahren galt die Eisenbahnstraße als ,,Broadway“ Leipzigs, es gab fast nichts, was es nicht gab …
In der Zeit vom 1. August 1945 bis zum Ende des Jahres 1991 wurde die Eisenbahnstraße in Ernst-Thälmann-Straße umbenannt. Auch zur DDR-Zeit war die Ernst-Thälmann-Straße eine beliebte Einkaufsstraße. Dort abends Bummeln zu gehn, das war schon ein Erlebnis. Ende der 1970er Jahre gab es sogar ein Projekt zur Umgestaltung der Ernst-Thälmann-Straße in einen verkehrsfreien Ernst-Thälmann-Boulevard mit U-Bahn-Anschluss am Listplatz und an der Kreuzung Liebmannstraße. Zur Umsetzung fehlten aber schließlich der Wille, das Material und das Geld.
Eine Postkarte aus meinem Archiv zeigt links im folgenden Bildpaar die Bebauung der Eisenbahnstraße um das Jahr 1905 mit Blick von der Ostecke des Listplatzes in Richtung Osten. Sofort fällt der schnurgerade Verlauf der Straße auf – sie wurde ja schließlich entlang der schnurgeraden Eisenbahntrasse bebaut. Die Eisenbahntrasse nach Dresden verlief nicht in der Straßenmitte, sondern etwa auf der linken Straßen- bzw. Fußwegseite. Das rechte Bild habe ich im November 2018 aufgenommen. Fuhren links im Jahr 1905 noch die Straßenbahnen der (Blauen) Linien L (Leutzsch – Tauchaer Tor), S (Plagwitz – Sellerhausen und V (Kleinzschocher – Sellerhausen), so sind heute an dieser Ecke die Linien 1 (Lausen – Mockau), 3 (Knautkleeberg – Taucha/Sommerfeld) und 8 (Paunsdorf-Nord – Grünau-Nord) unterwegs.
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Fazit 3: Wir verdanken Friedrich List die Existenz und den Verlauf der heutige Eisenbahnstraße.
Die beiden repräsentativen Eckgebäude zur Eisenbahnstraße, auf der linken (Nr. 1 und 3) und rechten Straßenseite (Nr. 2), gibt es heute nicht mehr. Sie sind im Dezember 1943 durch den großen britischen Luftangriff auf Leipzig zerstört worden. Der Angriff galt damals der Leipziger Innenstadt, dem Graphischen Viertel Leipzigs, südwestlich und dem Güterbahnhof, nordwestlich der Eisenbahnstraße. Da lagen die Eckgebäude dazwischen und wurden ebenfalls mit zerstört. Die große Lücke auf der linken Seite wurde Mitte der 1990er Jahre als Bürokomplex mit Wohnungen neu bebaut, rechts ist eine grüne (sehr ausdauernde) grüne Zwischenfläche zusehen und wenn man genau hinschaut: an der rechten Fußwegseite steht ein orangfarbenes Schild.
Um dieses Schild genauer unter die Lupe zu nehmen, wechseln wir mal die Straßenseite hinüber zur Luther-/ Ecke Eisenbahnstraße.
4. über Waffen und Barrikaden
Dieses Schild wurde erst vor drei Wochen aufgestellt und soll auf die „Waffenverbotszone“ der Leipziger Eisenbahnstraße hinweisen. Wie auf dem linken Bild unten zu erkennen, ist vor lauter Farb-Spray kaum was zu erkennen – ist hier jemand für das Tragen von Waffen oder ist das Schild rassistisch?
Apropos: Tragen von Waffen. Ich habe in meiner Sammlung ein fast 100jähriges Bild, dass fast an der gleichen Stelle aufgenommen wurde, nur genau mit Blick in die andere Richtung zur Stadt und zum Listplatz. Während der Zeit des reaktionären Kapp-Putsches kam es auch in Leipzig im Zeitraum vom 13. – 18. März 1920 zu Aktivitäten gegen die Putschisten. [Quelle #6]
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Auf dem Bild ist eine Barrikade quer über die damalige Tauchaer Straße (heute: Rosa-Luxemburg-Straße) am Listplatz zu sehen, die von bewaffneten Arbeitern bewacht wird.
In der Leipziger Volkszeitung wurde am 18. März 1918 darüber berichtet:
,,Heute früh war auch die Tauchaer Straße abgesperrt. An der Ecke der Lutherstraße, wo die Eisenbahnstraße beginnt, war quer über die ganze Straße eine Barrikade errichtet. In der Mitte war ein hoch mir Brettern beladener Wagen geschoben. Hinter der Barrikade standen bewaffnete Arbeiter, die von jedem, der nach dem Inneren der Stadt gehen wollte, einen Ausweis verlangten.“
[Bild unten links, Quelle #7]
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Auf dem rechten Bild der heutige Rückblick in Richtung Listplatz zum Vergleich.
Fazit 4: Die Eisenbahnstraße ist historisch gesehen eine vielfältig interessante Straße.
Bisher ging es im wesentlichen ja nur um den äußeren Rahmen – rechts und links der Eisenbahnstraße lassen sich aber, wenn Sie Lust dazu haben, auch eine Menge interessanter Details entdecken.
Auf geht’s (demnächst ab 2019 in einem Stadttei-Rundgang)!
Literatur- und Quellenverzeichnis:
- Quelle #1: Friedrich List, wikipedia, Bild
- Quelle #2: Friedrich List: Ueber ein sächsisches Eisenbahn-System als Grundlage eines allgemeinen deutschen Eisenbahn-Systems und insbesondere über die Anlegung einer Eisenbahn von Leipzig nach Dresden, Leipzig, A. G. Liebeskind 1833, online in der SLUB: https://digital.slub-dresden.de/en/workview/dlf/93171/1/
- Quelle #3: Gemeinden im Leipziger Osten aus verschiedenen Links wikipedia
- Quelle #4: Leipziger Volkszeitung (LV), 30.12.1909, Seite 11, online in der SLUB: http://digital.slub-dresden.de/werkansicht/dlf/150965/
- Quelle #5: Leipziger Adreß-Buch 1910, Abschnitt XVII Statistik, 1. Bevölkerung, online in der SLUB: http://digital.slub-dresden.de/werkansicht/dlf/90848/21/0/
- Quelle #6: Barrikadenbild ADN-ZB/Archiv/bku/Ga, Barrikade in der Tauchaer/ Ecke Lutherstraße, Reg.-Nr. J0305/600/5N
- Quelle #7: Leipziger Volkszeitung (LV), 18.03.1920, online in der SLUB: http://digital.slub-dresden.de/werkansicht/dlf/154632/