Schweigen und Angst

Mein Vater, Werner Stein, hat sein ganzes Leben gern und viel fotografiert: z.B. das alte Leipzig und das Naundörfchen vor den Kriegszerstörungen, den 17. Juni 1953.

Auch am 10. November 1938 war er mit der Kamera in der Leipziger Innenstadt unterwegs und hat die Zerstörung der jüdischen Synagoge und jüdischer Kaufhäuser im Bild festgehalten.
Er hat mir erzählt, dass er damals als 24-jähriger fassungslos über die Gewalt und Zerstörungen war. Er hat an dem Tag weniger jubelnden Leute gesehen, sondern meistens machten sich Schweigen und Angst breit, über das, was da noch kommen könnte.
Diese sechs Bilder möchte ich deshalb als historische Mahnung hier vorstellen …

Die Bilder sind nach dem Fotoverzeichnis meines Vaters durchnummeriert und werden hier in dieser Reihenfolge beginnend mit Bild 1064 bis 1069 gezeigt. Leider habe ich die Filmnegative nicht mehr vorliegen und musste daher auf die eingescannten Papierbilder zurückgreifen.

Zuerst links eine Übersicht der Aufnahmeorte von vor 80 Jahren in einer aktuellen Karte aus openstreetmap (2018), weil man mehrere der gezeigten Gebäude heute nicht mehr auffinden kann.

Fotos 1064 und 1065: Kaufhaus Bamberger & Herz,
Goethestraße 1 am Augustusplatz (das Gebäude ist erhalten geblieben, eine Gedenktafel erinnert an das frühere Kaufhaus)
Im Gebäude ,,Königsbau“, am Augsustusplatz, befand sich einst das jüdische Kaufhaus des Familienunternehmens Bamberger & Hertz, welches im Jahr 1911 eröffnet wurde und sehr bedeutend war.
Besitzer des damals bekannten Herrenkonfektionshauses war Heinrich Bamberger, die Geschäftsleitung wurde durch die 3 Brüder Bamberger geführt. 1927 gehörte das Unternehmen zu den führendsten Konfektionshäusern Deutschlands. Durch den Boykott jüdischer Geschäfte ließ der Umsatz stark nach und das Unternehmen wehrte sich gegen die Enteignung durch die Nationalsozialisten. Deshalb wurde das Gebäude in der Progromnacht 1938 angezündet und die Besitzer wurden der Brandstiftung bezichtigt. Kurze Zeit später wurde die Firma Bamberger & Hertz aufgelöst. 1942 wurde Ludwig Bamberger samt Ehefrau in das KZ Theresienstadt deportiert und starb dort, die Kinder der Familie konnten gerettet werden. [Quelle: Wikipedia]

Bemerkenswert: auf Bild 1064 ist links noch der Balkon vom Café Felsche zu sehen, auf Bild 1065 ist in der Straßenmitte eine neue Verkehrsampel zu sehen.

Fotos 1066 und 1067: Große Gemeindsynagoge,
Gottschedstraße 3/Ecke Zentralstraße (heute Gedenkstätte)

Die Große Gemeindesynagoge (auch „der Tempel“ oder später Alte Synagoge genannt) in Leipzig war die älteste und bedeutendste Synagoge der Stadt. Sie wurde 1854–1855 nach Plänen des Semper-Schülers Otto Simonson erbaut. Die Synagoge hatte den Grundriss eines Drachenvierecks. Die Grundsteinlegung erfolgte am 9. September 1854. Am 10. September 1855 wurde die neue Synagoge durch den Rabbiner Adolf Jellinek ihrer Bestimmung übergeben. Während der Novemberpogrome wurde das Gotteshaus in der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 in Brand gesteckt und zerstört. Vom 11. November 1938 bis zum 12. Februar 1939 erfolgte der Abriss der Ruine auf Kosten der Israelitischen Religionsgemeinde. Die Synagoge stand unmittelbar westlich des Promenadenrings in der Gottschedstraße 3, Ecke Zentralstraße.
Am 18. November 1966 wurde zur Erinnerung an die jüdische Gemeinde und an die Zerstörung ihres Gotteshauses an der ehemaligen Nordfassade ein kleiner vom Leipziger Bildhauer Hans-Joachim Förster (* 1929) geschaffener Gedenkstein aus Cottaer Sandstein eingeweiht. Nach mehrheitlichem Beschluss des Leipziger Stadtrates im Oktober 2000 konnte das Grundstück zu einem großflächigen Mahnmal umgestaltet werden. Das am 24. Juni 2001 eingeweihte Mal zeichnet auf einer Fläche von 12 × 12 Metern den Grundriss des zerstörten Gebäudes nach. Das Innere bildet ein Feld aus 140 leeren Bronzestühlen. [Quelle: Wikipedia]

Auf den nach links verlaufenden Straßenbahnschienen fuhr die Linie 6 über Gottschedstraße, Zentralstraße in Richtung Waldplatz.

Foto 1068: Kaufhaus Gebrüder Fried,
Windmühlenstraße 1 – 5/Ecke Brüderstraße (nicht erhalten)
Das Kaufhaus war 1919 vom Schuhhändler Moses Moritz Fried eröffnet worden. Der 1885 in Österreichisch-Polen geborene Fried stammte aus einer jüdischen Kaufmannsfamilie. Die Familie wohnte in der König-Johann-Straße 27 (heute Tschaikowski-Straße). Fried wurde 1942 gemeinsam mit seiner Frau von den Nazis nach Riga deportiert und dort ermordet – auch seine Mutter und seine Schwester starben in Vernichtungslagern.
Das Gebäude an der Ecke Windmühlen-, Brüderstraße fiel den Bombenangriffen im Zweiten Weltkrieg zum Opfer. [Quelle: Wikipedia]

Das Foto rechts zeigt das teilweise ausgebrannte Kaufhaus Gebr. Fried.
Das Gebäude wurde 1908 erbaut, ab 1920 befindet sich u. a. darin das Kaufhaus Gebr. Fried. Auf dem Bild beginnt rechts die Windmühlenstraße (in Richtung Bay. Bf.).
[Danke für die Gebäudeauffindung und Lagebeschreibung an A. Hönemann.]

Foto 1069: Warenhaus Gebrüder Ury,
Königsplatz 15 (nicht erhalten)
Moritz und Julius Ury eröffneten 1896 das erste Leipziger Warenhaus „Ury Gebrüder: Warenhaus“ am Königsplatz 15 (Wilhelm-Leuschner-Platz). Die Familie Ury, Mutter und Witwe Ernestine Ury und ihre Kinder zogen 1896 nach dem Tode des Vaters Salomon Ury nach Leipzig.
Moritz Ury und seine Frau Selma nahmen im Oktober 1937 ständigen Wohnsitz in der Schweiz. In Montreux hatte Moritz Ury in den Jahren zuvor regelmäßig seine schwere Krankheit behandeln lassen. Walther und Tanja emigrierten im August 1938 in die Schweiz. Julius Emigration misslang. Er kam nur bis nach Frankreich, musste sich dort verstecken und verstarb 1940 an unbekanntem Ort. Julius Frau Klara konnte sich mit den zwei Kindern in die Schweiz retten.
Moritz, Julius und Walther verdrängte man im Zuge der Arisierung als Gesellschafter und Geschäftsleiter aus den Vorständen des Warenhauses am Königsplatz und aus ihren Handelsketten. Das Warenhaus wurde bis 1941 liquidiert und zum Reichsmesse-Textilhaus umgestaltet.
Beim Luftangriff vom 4. Dezember 1943 wurde die gesamte Bebauung des Königsplatzes zerstört, bis auf das alte Grassimuseum, das schwer beschädigt wurde. [Quellen: wikipedia und Veikkos-Archiv]

Auf dem Bild das teilweise ausgebrannte Warenhaus mit Blick in Richtung Süden. Die nach rechts abzweigende Seitenstraße ist die Nonnenmühlgasse. Auf der rechten Straßenseite schließt sich seit 2015 das Gebäude der katholischen Propsteikirche St. Trinitatis an.


Nachtrag:

Ich habe noch eine Literaturquelle entdeckt, in der nicht nur von den Brandschatzungen uin der Leipziger Innenstadt, sondern auch Geschäftszerstörungen im Leipziger Osten beschrieben werden. Das Buch stammt von Renate Tschurn: Bammchen, zwanzig Jahre aus dem Leben einer Leipzigerin (1930-1950), erschienen im  Engelsdorfer Verlag 2011.

Zitat:
Am 9. November 1938 hat man in der Stadt und in den Außenbezirken viele dieser schönen Dinge entzwei geschlagen. Überall lagen Scherben auf der Straße von den Schaufenstern. Die Auslagen hatte man einfach auf die Straße geworfen. In die Stadt durften wir Kinder gar nicht. Aber unseren Schulweg dehnten wir aus, und konnten es nicht fassen.
In der Eisenbahnstraße fanden wir fast jedes zweite Geschäft zerstört, die schönen Spiegel in Scherben und die Drehtüren zertrümmert.

Dem möchte ich in einem Extra-Beitrag mal nachgehen –  nach Recherche und Auswertung wird hier ein Beitrag darüber folgen.

2 Gedanken zu “Schweigen und Angst

  1. Gut daß auch hier an diese schrecklichen Zeiten erinnert wird. Gerade in einer Zeit, in der immer noch jüdische Einrichtungen unter Polizeischutz stehen müssen und es Leute gibt, die die ganze Geschichte als „Vogelschiß“ verharmlosen.

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    • Allerdings befürchte ich, dass totalitäre Systeme auch heute vor Nichts und Niemandem zurückschrecken. Da gibt es nicht nur in Mitteleuropa ein gewisses Wiederholungs-Potenzial …

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