Seit langer Zeit ist über die Eisenbahnstraße mal wieder ein Bildband erschienen – ein neues Buch mit alten Bildern aus dem Mitteldeutschen Verlag mit dem Titel: Als die Eisenbahnstraße noch Ernst-Thälmann-Straße hieß.
Dieser Bildband wurde zur Leipziger Buchmesse vom Fotografen Harald Kirschner und dem Verlag am 23. März 2019 im Stadtgeschichtlichen Museum vor großem Publikum präsentiert.
Anschließend gab es die Gelegenheit von Fotograf zu Fotograf ein paar Worte auszutauschen und ins Buch schreiben zu lassen …
Zur Entstehung der Bilder hat Harald Kirschner während der Buchpräsentation einen kleinen Einblick gegeben.
Damals, im Frühjahr 1981, gab es an der Hochschule für Grafik und Buchkunst ein sozio-kulturelles Studenten-Projekt, dass sich mit dem Lebensumfeld Leipziger Einwohner an der Ernst-Thälmann-Straße im Leipziger Osten beschäftigte. Genauer ging es in den sechs Projektwochen um das Wohnviertel zwischen Hermann-Liebmann-, Ernst-Thälmann-, Torgauer und Konradstraße. In dieser Gegend war Harald Kirschner also als Profi-Fotograf mit (sozusagen) außenstehendem Beobachterstatus unterwegs.
Demgegenüber war ich ja mehr als anwohnender Amateur-Fotograf und mehr im vorderen Bereich der Ernst-Thälmann-Straße bis zur Hermann-Liebmann-Straße unterwegs. Und ja, da ging es mir wie ihm, meistens hatte ich den guten ORWO-Schwarzweiß-Film in der Kamera. Der war preiswert, qualitativ gut und ließ sich unter heimischen Bedingungen auch gut selbst verarbeiten, spricht gezielt feinkörnig entwickeln und nach gewünschtem Ausschnitt auf handelsüblichen Fotopapieren vergrößern.
Interessanterweise hat Harald Kirschner in einigen Fällen die gleichen Motive fotografiert, die ich auch schon mal auf’s Korn genommen hatte.
Das möchte ich hier anhand von zwei Beispielen im Vergleich zeigen:
Bild links, meine Aufnahme von einem (damals noch bewohnten) Abrisshaus mit großem Riss in der Fassade und frischen Gipsmarken, vermutlich im Bereich Neuschönefeld, Otto-Runki-Straße vom Herbst 1975 – im Bildband von der Ernst-Thälmann-Straße wird auf der Seite 18, unter dem Titel ,,Abrisshaus“, eine Aufnahme des gleichen Abrisshauses sechs Jahre später gezeigt, im Frühjahr 1981. Interessant ist die Hausentwicklung über diesen Zeitraum: das Haus steht zwar noch, die Gipsmarken sind aber längst gerissen, der Wohnungsputz ist abgefallen. Hinter vorgehaltener Hand sprach man sarkastisch vom Ruinen schaffen – ohne Waffen!
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Bild rechts, habe ich vom Straßenabschnitt her an der Ernst-Thälmann- / Haltestelle Torgauer Straße nur kurz vor Harald Kirschner im November 1980 fotografiert. Während es mir in erster Linie um die futuristische Fassaden-Malerei und die Haltestellen-Situation ging, habe ich mehr zufällig rechts von der Bildmitte den Aufsteller von VEB Galvanotechnik Leipzig mit fotografiert: Sozialistisch arbeiten – fleißig, ehrlich und ergebnisreich. Im Bildband, auf Seite 4, hat Harald Kirschner diesen Aufsteller dem ruinösen Häuser-Hintergrund gegenübergestellt. Das war damals schon für eine Hochschul-Studie sicher ein sehr gewagtes Foto (!)
Laut Erläuterung vom Mitteldeutschen Verlag (Roman Pliske) sollte ja ursprünglich der Text von Hans Sonntag: Meine paradiesische Wohnung mit fünf / sechs Bildern von Harald Kirschner illustriert werden. Im Bildband stellt sich das inzwischen genau andersherum dar: es dominieren die Bilder und der Text reflektiert im letzten Drittel des Buchs das Wohngefühl im Leipziger Osten zur Handlungszeit – eine interessanter inhaltlicher Wechsel.
Bei Lesen des Sonntag-Textes wurde mir auch nochmal bewusst, wieviel Zeit man damals mit einem heute so nebensächlichen Thema wie dem Heizen der Wohnung verbracht hat. Bei uns hieß es z.B. im Jahr 1981 unter der Woche früh Aufstehen, Frühstücken, zur Arbeit bzw. mit dem Kind zur Kindereinrichtung und dann zur Arbeit gehen. Am Nachmittag wurde zuerst die Kindereinrichtung angesteuert und mit dem Kind nach Hause gelaufen. Zu Hause war die Wohnung kalt und als erstes musste geheizt werde. Dazu wurde der Kachelofen im Kinderzimmer und der Berliner Ofen im Wohnzimmer von der Asche beräumt, mit Papier, Feuerholz und Kohlen bepackt und angezündet. Anschließend wurde die Asche vier Etagen nach unten in die Aschetonne getragen und dann mussten die Öfen natürlich nebenbei noch betreut werden, damit es in den folgenden Stunden in der Wohnung erträglich warm wurde. Beim Kachelofen dauerte das meisten eine Stunde, der Berliner Ofen war dann nach dem Abendessen warm. Damals trug man als Altbau-Bewohner im Winter grundsätzlich einen warmen Pullover.
Und nicht ganz zu vergessen, die Kohlen mussten ja auch eimerweise, einer rechts, der andere links, aus dem Keller die vier Etagen nach oben transportiert werden. Da hatte man mit dem Heizen ganz erheblich lange zu tun …
Fazit:
Bilder (Harald Kirschner) und Text (von Hans Sonntag) zeigen ein Stück nüchternen DDR-Alltags der 80er Jahre im Leipziger Osten und sind aus meiner Sicht sehr gut gelungen.
Danke für diese Buchinformation. Als ehemaliger Bewohner der Ernst Thälmann Str. habe ich soeben dieses Buch gekauft.
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Gern geschehen!
Hinweis: auf Seite 50 befindet man sich in der Torgauer Straße (nicht Ernst-Thälmann-Straße), im Hintergrund die Einmündung Konradstraße.
Das Titelbild wurde an der Ecke Hildegardstraße aufgenommen: rechts das Haus ETS 87 (ZOO-Ecke) und links die 85 mit Flax und Krümel.
Grüße Harald
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Hätte mir im Buch eine Karte gewünscht mit Markierungen wo die Bilder entstanden sind. So konnte ich nicht alle Fotos zuordnen. Ansonsten gutes Buch und als Ergänzung zu den vielen Fotos und Infos von Harald Stein bestens geeignet.
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Stimmt, die Bildbeschreibungen im Buch sind etwas knapp geraten, zumal auch ich fast 38 Jahren später nicht immer gleich auf Anhieb wusste, wo die Bilder aufgenommen sein könnten. Zur Buchpräsentation am 23. März wurde bei der „Bilder-Show“ in vielen Fällen eine Standort-Erläuterung gegeben, die sicher auch im Buch gut gewesen wäre. Der Karten-Idee werde ich vielleicht nachkommen, da rede ich mal mit Harald Kirschner …
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