Winter-Kapriolen, Teil 1: 1978/79

 Blizzard über Deutschland im Winter ’78/’79

L.-Reudnitz, auf der Stötteritzer Straße, 31.12.1978

L.-Reudnitz, auf der Stötteritzer Straße, 31.12.1978

Ende Dezember 1978 hatte Mitteleuropa unter einem dramatischen Kälteeinbruch zu leiden: innerhalb weniger Stunden sanken die Temperaturen auch in Leipzig von etwa + 10 auf – 18 °C.
Was dann wirklich über das Land mit starkem Schneefall und Kälte mit bis dahin unvorstellbarer Wucht hereinbrach, hatte man bis dahin nur über arktische Blizzards gelesen.
Da war der Schlitten manchmal das einzigste zuverlässige Verkehrsmittel um in Leipzig von A nach B zu gelangen, siehe Bild rechts.
In der DDR brach über Silvester die Energieversorgung für zwei Tage komplett zusammen. Das war auch bei uns in Leipzig-Neustadt so, aber wir hatten wenigstens noch Kohlen im Keller und konnten unsere Öfen heizen, in den Leipziger Neubaugebieten sah es da nicht so gut aus.

Für meinen kleinen Bericht habe ich folgendes Material verwendet: s/w-Bilder aus meinem Filmarchiv, ein aus Wetterzentrale.de erstelltes Wetterdiagramm, selbst erlebte Geschichten und verschiedene historische Zeitungsausschnitte von einem extremen Winter in Leipzig …

L.-Schönefeld, Mariannenpark, 24.12.1978

L.-Schönefeld, Mariannenpark / Stannebeinplatz, 24. Dezember 1978

L.-Schönefeld, Mariannenpark / Stannebeinplatz, 24. Dezember 1978

Am Heiligen Abend 1978 haben wir unseren traditionellen Spaziergang vor der Bescherung von unserer damaligen Wohnung in der Neustädter Schulze-Delitzsch-Straße über die Brücke zum nahegelegenen Mariannenpark unternommen. Es liegt sogar etwas Schnee, 5 cm sind für Leipzig relativ viel. Links im Bild der Schönefelder Stannebeinplatz, in Bildmitte die Hermann-Liebmann-Brücke und rechts am Bildrand die Neustädter Heilig-Kreuz-Kirche am Neustädter Markt.
Leider war vom Schnee bald nichts mehr zu sehen. Statt dessen sorgten „zwischen den Jahren“ Regen und ein stürmischer, warmer Südwestwind für massives Tauwetter sogar bis in die Gipfellagen der Mittelgebirge.

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Leipzig, Karl-Marx-Platz am Nachmittag, Dezember 1978

Leipzig, Karl-Marx-Platz am Nachmittag, Dezember 1978

L.-Neustadt, am Freitag, den 29. Dezember

Das Richtfest des Neuen Gewandhauses zu Leipzig
fand am 29. Dezember 1978 statt. Ich konnte aber erst nachmittags ein paar triste Bilder auf dem Karl-Marx-Platz von der Gewandhaus-Baustelle und dem unschönen Parkplatz aufnehmen – bei Schmuddel-Wetter mit Nieselregen bei etwa + 11 °C.

Am Abend haben wir im Radio in einer Meldung vom Meteorologischen Dienst der DDR gehört, dass sich die über der Ostsee liegende sehr kalte Luft südwärts verlagern und damit eine längere Frostperiode mit starkem Schneefall eingeleitet würde. Es bildete sich eine ungewöhnlich scharf ausgeprägte Grenze zwischen sehr milder Meeresluft über dem südlichen Mitteleuropa und extrem kalter arktischer Festlandsluft über Nord- und Osteuropa.

L.-Neustadt, am Sonnabend, den 30. Dezember

Es ist Wochenende und Silvester steht vor der Tür. Da sind die verfügbaren Einsatzkräfte vom Winterdienst nur schwach besetzt, auf den Straßen sieht man nur selten ein Einsatzfahrzeug (räumen / streuen oder sowas in der Art) und die Einsatzkräfte sind ohnehin nicht auf extreme Ereignisse vorbereitet. Das kam auch daher, weil eine Reihe vorangegangender Winter relativ mild ausgefallen waren und kaum noch jemand mit einem richtig kalten Winter gerechnet hatte.
In Leipzig ging am Sonnabend-Vormittag der Nieselregen langsam in einen Eiskörnerregen und schließlich bei Temperaturen unter minus 5 Grad in Schnee über.
Ich habe aus den im online-Archiv bei www.wetterzentrale.de verfügbaren Daten für Temperatur und Schneehöhe für Leipzig-Schkeuditz ein Diagramm erstellt, dass den typischen Verlauf dieses Winters im Zeitraum von Weihnachten 1978 bis Anfang März 1979 zeigt:
Winter78-79In diesem ausgesprochen langen Winter 78/79 gab es eigentlich zwei Wintereinbrüche: einer mit Beginn zu Silvester und ein zweiter ab der zweiten Februarwoche.

L.-Neustadt, am Sonntag, den 31. Dezember
(unser Silvestertag)

Thermometer am zugefrorenen Küchenfenster: - 18 °C

Thermometer am zugefrorenen Küchenfenster: – 18 °C

Am Silvester-Nachmittag sinken die Temperaturen draußen bis zum Nachmittag unter – 15 Grad und dazu stürmt ein straffer kalter Nordost-Wind mit Windgeschwindigkeiten bis zu 50 km/h.
Es sind im Tagesverlauf zwar nur 10 cm Neuschnee gefallen, aber durch Wind haben sich bald auch auf den Straßen in der Stadt kleinere Schneewehen bis zu einem halben Meter Höhe gebildet.
Trotz intensiver Ofen-Heizung haben wir unsere kleine Mansarden-Wohnung (24 m²) in der Schulze-Delitzsch-Straße nicht mehr richtig warm bekommen. Nur in Ofennähe ist es noch warm – die einfachen Fenster sind schnell zugefroren. Unser Sohn freut sich an den schönen Eisblumen. Um die Temperatur am Außenthermomenter des Küchenfensters ablesen zu können, müssen wir am Nachmittag ein Loch durchs Eis hauchen:

– 18 °C !

Für Silvester haben wir eine erweiterte Familienfeier bei Freunden in Reudnitz verabredet. Jetzt rückzufragen, ob das stattfindet geht nicht, weil keiner von uns zu Hause ein Telefon hat. Also machen wir uns kurzentschlossen am Silvester-Nachmittag gegen 4 Uhr mit unserem Sohn (4) auf den Weg.
Der Fotoapparat (Exa 1a) ist natürlich auch mit dabei und daher gibt es vom Silverstertag und vom Neujahrstag hier auch ein paar interessante Bilder zu sehen.
Allerdings: man musste sich warm anziehen!
Zunächst sind wir von der Schulze-Delitzsch-Straße über die Hedwigstraße zur Ecke Ernst-Thählmann-Straße gestapft. Überall liegt Schnee,selbst mitten auf den Straßen und es macht sich, auch durch den schneidenden Wind bedingt bitterkalt, ein Vorgefühl von sibirischer Kälte bemerkbar.

Ernst-Thälmann-/ Ecke Hedwigstraße, Blick stadtauswärts

Ernst-Thälmann-/ Ecke Hedwigstraße,
Blick stadtauswärts, im Winter 1978/79

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gleicher Standort, Blick stadteinwärts,
Bildmitte Kino Wintergarten

Der Straßenverkehr ist fast vollständig zum Erliegen gekommen. Es fahren nur noch sporadisch Tatra-Straßenbahnen und diese auch nur als Triebwagen im Notverkehr. Auch auf den Straßen fahren nur noch wenige Fahrzeuge. Ab und an ein Armee-Lastwagen vom Typ „Ural“, die halten schon etwas mehr aus.
An der Straßenbahn-Haltestelle Hermann-Liebmannstraße angekommen, müssen wir feststellen, dass die ,,22″ nicht mehr fährt. Die Schienen sind total zugeschneit und die Weiche an der Ecke Thälmann-Straße ist vereist.
Vom Winterdienst ist keine Spur zu sehen.

L.-Reudnitz, vorm Straßenbahnhof, Silvester '78

L.-Reudnitz, vorm Straßenbahnhof, Silvester ’78

Also geht es zu Fuß weiter über die Hermann-Liebmann-, Berg- und Kohlgartenstraße in Richtung Straßenbahnhof Reudnitz, um von dort mit der ,,4″ weiter zur Stötteritzer Straße zu fahren.
Aber auch am Straßenbahnhof in Reudnitz können wir gerade noch eine letzte Bahn in Richtung Stadt entschwinden sehen, siehe nebenstehendes Foto. In unsere Richtung nach Stötteritz fährt momentan nichts mehr.
Deshalb laufen wir nach kurzem Warten, um nicht kalt zu werden, weiter in Richtung Riebeckstraße. Es wird langsam dunkel und wir sehen, dass in den Wohnungen überall nur schwache Kerzenlichter brennen – offenbar ist inzwischen der Strom ausgefallen.

L.-Reudnitz, auf der Stötteritzer Straße, 31.12.1978

L.-Reudnitz, 31.12.1978

Kurz vor der Kreuzung Oststraße kommt uns unsere Silvester-Gastgeberin Steffi mit Schlitten und Tochter entgegen.
Das ist eine Freude! Unser Sohn setzt sich mit auf den Schlitten und ab geht die Post zur Stötteritzer Straße. Wir können ohne Probleme mit dem Schlitten mitten auf der Straße fahren, es fährt außer uns niemand und nichts 😉
Angekommen gibt’s dort zwar auch keinen Strom, aber eine mit Berliner Ofen gut beheizte Wohnung zum Aufwärmen, eine reichlich geschmückte Silvester-Stube und jede Menge gute Laune und Spaß für sieben Personen bei Kerzenschein! Um Mitternacht haben wir mit den Kindern Wunderkerzen abgebrannt und dann ging es bald ab in die Federn …

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lustiger Silvester-Spaß

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Silvester-Spiel und Spaß

L.-Neustadt, am Montag, den 1. Januar (Neujahr ’79)

Auch am Neujahrsmorgen gab es noch keinen Strom. Also haben wir gewartet, bis es draußen heller wurde und dann gemeinsam gefrühstückt. Danach haben wir uns wieder warm angezogen und auf den Rückweg begeben.

L.-Reudnitz, Riebeckstraße zu Neujahr 1979

L.-Reudnitz, Riebeckstraße zu Neujahr 1979

Steffi, Tochter und Schlitten haben uns ein Stück auf dem Weg (bis zur Riebeckbrücke) begleitet, weil wir an der Ecke Stötteritzer/ Riebeckstraße feststellen, dass weder die ,,22″ noch die ,,4″ fährt. Uns bläst ein eisiger Wind ins Gesicht; das fühlt sich weit kälter als die – 20 Grad an, die gemessen worden sind …

Nach einer halben Stunde Fußmarsch  kommen wir schließlich wieder zu Hause in der Neustädter Schulze-Delitzsch-Straße an. Inzwischen wenig überraschend stellen wir fest, dass es bei uns auch weder Strom noch Gas gibt. Zum Glück haben wir zwei gefüllte Kohleneimer vor der Wohnungstür stehen und brauchen nicht mit der Kerze in den Keller zum Kohlenholen gehen. Also, haben wir gemeinsam schnell alle verfügbaren Öfen beheizt und die kalte Dachgeschoss-Wohnung wieder aufgewärmt.

Kleine Episode am Rande: unser Nachbar Manfred hatte zu Silvester eine Neujahrsgans zubereitet, die jetzt nur noch in den Backofen sollte. Da wir alle am Neujahrs-Mittag kein Gas für Gasherd und Backofen hatten, hat er versucht die Gans auf dem Glutos-Küchenofen zu garen. Wir haben nur am Gestank nach verbranntem Fleisch gerochen, dass das maximal nur teilweise gelang.

Soweit ich mich erinnere hatten wir ab 2. Januar wieder Gas und Strom. Und da waren wir damals richtig froh und glücklich. Wenn sowas ausfällt, dann merkt man erst wie man sich an solche technischen ,,Errungenschaften“ schon gewöhnt hat …

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Zeitungsschau in der ersten Januarwoche 1979

1. Wetterkarte zum Wochenende Sonnabend/Samstag, 30./31.12.
Meteorologischer Dienst der DDR (Potsdam)

Der DDR-Meteorologe Dr. Eginhard Peters nahm in diesem Zusammenhang am 2. Januar 1979 zum ersten Mal den in den USA üblichen Begriff „Blizzard“ in den Mund und erklärte in einem ADN-Gespräch: „Der Zusammenprall zwischen sehr kalter Luft im Norden und wärmeren Luftschichten im Süden führten quer über Mitteleuropa zu einer scharfen Luftmassengrenze. Dabei kam es zu Temperaturdifferenzen, die bei einer Entfernung von nur 100 Kilometern 20 Grad betrugen.“Winter.1978-79_14

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2. aus den Tageszeitungen ST (Leipzig), LVZ und ND

Winter.1978-79_16[ST – Sächsisches Tageblatt, LVZ – Leipziger Volkszeitung, ND – Neues Deutschland].

Die Folge dieses Wintereinbruchs zur Jahreswende 1978/79 waren: windverwehte Straßen, Stillstand bei der Reichsbahn und die Kohleförderung bzw. –produktion kam zum erliegen.
Das betraf besonders die Braunkohlen-Tagebaue um Leipzig – Lebensader der DDR-Industrie – sie kamen fast vollständig zum Erliegen. Braunkohle hat einen hohen Wasseranteil von 60 % und ist bei der Kälte einfach total zusammengefroren.
Die LVZ vom 2. Januar 1979 schrieb über die Situation im Tagebau Zwenkau:

„Extreme Schwierigkeiten erlebte die Frühschicht am Neujahrstag. Vor vereisten Weichen stauten sich die Züge und auch die Besatzung am Tagebaubunker, dem Nadelöhr der ganzen Kette, hatte erhebliche Störungen zu überwinden … Was bei normalen Bedingungen wie am Schnürchen abrollt, wird bei ungewöhnlicher Kälte zu einem Kampf mit jedem einzelnen Kohlezug.“

Bei den wenigen Zügen, die in der kritischen Phase die Kraftwerke doch noch erreichten, war die Kohle an den Waggonwänden fest gefroren. Sie mußte teils mit Presslufthämmern heraus gebrochen, teils mit Heißdampf heraus gelöst oder gar mit Triebwerken russischer MiG-Düsenjäger herausgepreßt werden.

L.-Neustadt, im Januar und Februar 1979
Winter.1978-79_17

Der strenge Frost hielt noch über die ganze erste Januarwoche an wie die nebenstehende Wettermeldung aus dem ,,Sächsischem Tageblatt“ zeigt.

Langsam begann sich das Leben wieder zu normalisieren: die Straßenbahnen fuhren wieder öfter und zuverlässiger, die Straßen und Fußwege wurden beräumt. Auch in der Ernst-Thälmann-Straße war das so, wie nachfolgendes Bild vom Ende der ersten Januarwoche zeigt.

Leipzig-Nst./Nsf, Ernst-Thälmann-Str. im Januar 1979

Leipzig-Nst./Nsf, Ernst-Thälmann-Straße
Richtung Listplatz, im Januar 1979

Anmerkungen (für Neugierige und Zweifler):
–   im Flachbau links an der Haltestelle (stadtauswärts) befand sich damals der Eingang zu Foto-Brüggemann
–   die Straßenbahn der Linie 2 mit der LVB-Fahrzeugnummer 1306 vom Typ KT4 war in den Jahren von 1975 bis 1984 in Leipzig im Einsatz, kam anschließend nach Berlin, siehe Tatrawerk-Seite.
–   das rechts im Bild sichtbare Verkehrszeichen Halteverbot galt seit dem 26. Mai 1977, siehe auch Anlage 2 zur StVO der DDR, II. Vorschriftszeichen, Bild 224 Halteverbot (das war zu dieser Zeit bereits eingeführt, auch wenn das heute von Unkundigen angezweifelt wird).

Der Winter hatte Stadt und Land aber im Jahr 1979 noch eine ganze Weile im Griff und Mitte Februar kam er in einer zweiten Welle nochmals zurück wie das Wetterdiagramm (oben) und auch nachstehender Zeitungsausschnitt belegen.
Winter.79-02_19
Fazit

Dieser Winter hatte die Volkswirtschaft und die Menschen in der DDR vor große Probleme gestellt. Vieles konnte anschließend mit viel Mühe und Fleiß, großer Anpassungsfähigkeit und in vielen Extraschichten in den Betrieben überwunden werden. Aber es wurde auch erstmals richtig sichtbar, dass die DDR an den Rand der Fähigkeiten und Möglichkeiten des Systems gelangt war. Das merkte man vor allem bei Waren des täglichen Gebrauchs, die gab’s einfach zeitweise nicht mehr: mal gab es zum Beispiel keine Wachskerzen, mal war das Waschpulver aus Genthin knapp. Einige Produkte gab’s nur noch in der ,,Hauptstadt der DDR – Berlin“ (offizielle Bezeichnung) zu kaufen. Ich meine, so richtig hat sich die DDR nach diesem Winter nie wieder erholen können.

Es war wie im Märchen von Hans Christian Andersen: erstmals wird da sichtbar, dass der Kaiser eigentlich keine Kleider mehr an hat 😉

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