,,Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen … „
Im Fundus alter Leipziger Stadtpläne, Karten und Bücher meines Großvaters Gerhard befindet sich auch ein gut erhaltener Reiseführer ,,Baedekers Leipzig“ aus dem Jahr 1948.
Bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass es diese kleine rote Broschüre in sich hat: kein üblicher Reiseführer, aber mit interessantem und sogar brisantem Inhalt, der Folgen hatte wie sich im weiteren Artikel zeigen wird …
Und, welcher Artikel begann in letzter Zeit schon mit einem Goethe-Zitat, dazu noch aus der düsteren Nacht-Szene in Faust 1?
… düstere Nacht-Szene: das entsprach im Jahr 1945 der Situation vieler Buchverlage der einstigen deutschen Verlags-Hauptstadt Leipzig.
Steht dazu was im ,,Baedekers Leipzig“ aus dem Jahr 1948?
… S. 47
,,Die vom Johannisplatz nördlich, östlich und südlich laufenden Straßen: Querstraße, Dresdner Straße, Salomonstraße, Inselstraße, Täubchenweg, Hospitalstraße, Nürnberger Straße, bilden mit ihren Nebenstraßen das sog. Buchhändlerviertel, das bei dem englischen Luftangriff vom 4. Dezember 1943 besonders schwer heimgesucht wurde.“
Das betraf auch die Gebäude des bekannten Leipziger Reisebuch-Verlags von Karl Baedeker in der Nürnberger Straße 46. Das Verlagsgebäude wurde total zerstört, Archiv und Lager gingen dabei mit allen Text- und vielen Kartenvorlagen verloren.
Weil die Baedekers aber Leipzig nicht verlassen wollten, wagten sie einen Neuanfang mit provisorischem Verlagssitz in der Baedeker-Villa Plagwitzer Straße / ab Sept. 45 umbenannt in Käthe-Kollwitz-Straße 30 / ab 1962 Käthe-Kollwitz-Straße 64.
Im Leipziger Adressbuch des Jahres 1948 ist folgender Handelregister-Eintrag über den Verlag Karl Baedeker zu finden:
,,Karl Baedeker A1092 C 1 Käthe-Koll-
witz-Str 30 T 46843 Pers haft Ges
Joh Emil Friedr Ferd Paul Baedeker
Ernst Dietrich Florenz Baedeker u Dr
phil Dietrich Otto Heinrich Baedeker“
Also eine Personenhaftungsgesellschaft der drei Baedeker-Brüdern Hans, Ernst und Dietrich – interessant finde ich auch die im Handelsregister genannten vielen Vornamen der Baedekers …
Anfang 1948 verstarb der fast 70jährige Ernst Baedeker, die Personengesellschaft wurde von den beiden Baedeker-Brüdern Hans und Dietrich vorerst weitergeführt.
Im Jahr 1948 erschien schließlich der mir vorliegende erste kleine neue Reiseführer ihrer Heimatstadt Leipzig unter der Lizenz Nr. 345 der Sowjetischen Militär-Administration in Zusammenarbeit mit dem Bibliographischen Institut Leipzig.
Auf den ersten Blick zeigt sich, dass dieser ,,neue Führer“ weniger ein Reiseführer sein sollte, sondern Mut machen sollte, diese Stadt wieder aufzubauen und auch als Umsiedler neu zu entdecken.
Der damalige Oberbürgermeister der Stadt Leipzig, Dr. Erich Zeigner, schrieb dazu im bemerkenswerten Vorwort:
,,Ich begrüße die Herausgabe dieses kleinen Handbuches. Für Fremde mag es zurzeit weniger in Betracht kommen, denn bis auf weiteres werden wir mit einem nennenswerten Besuch durch Ortsfremde kaum zu rechnen haben. Für Einheimische aber kann dieses kleine Handbuch eine recht wesentliche Bedeutung erlangen, denn es erzieht jeden dazu, unseren so sehr geschmälerten Besitz an kulturellen Werten aufmerksam und verständnisvoll zu genießen und diesen Besitz liebevoll zu pflegen. …
Wie können wir das aber, wenn wir nicht Klarheit haben, was wir besitzen, woher es kommt, welche Zusammenhänge bestehen. … Leipzig, am 1. Januar 1948„
Und zudem steht dieses Vorwort voll und ganz im Sinne des Goethe-Zitats: ,,Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen … “
Bei einem Rundgang durch Leipzig und der Umgebung wird auf 37 Seiten beschrieben, was zerstört worden war, was erhalten bleibt und wo ein Wiederaufbau geplant wird. Das betrifft z.B. auch den Thüringer Hof in der Burgstraße S.32, siehe Artikel ,,3 + 1 Bilder vom ,,Thüringer Hof“ in Leipzig“.
Daran schließt sich ein aus heutiger Sicht besonders interessanter Abschnitt mit dem Titel ,,Praktische Angaben“ ab Seite 59 an.
Da kann man z.B. folgendes Lesen:
Cafés: Pavillon im Europahaus, im XII. Stock und auf dem Dach des gen. Hochhauses (Fahrstuhl)
Das ist ja interessant, ich wusste bisher noch nicht, das es früher dort oben ein Café gab und einen Dachgarten 🙂
Lichtspielhäuser:
da werden natürlich nur die großen Kinos erwähnt – auch das Regina und der Wintergarten im Leipziger Osten. Straßenbahnen:
,,Änderungen häufig“, das könnte auch heute sein 🙂
Ganz am Schluss auf der Seite 62 werden noch die Amtlichen Stellen erwähnt.
Zuerst die Sowjetische Zentralkommandantur:
Das kam aber bei der Besatzungsmacht gar nicht gut an! Zusätzlich wurde diese amtliche Stelle auch noch auf zwei beiliegenden Karten mit der genauen Lage gekennzeichnet. Die sowjetische Besatzungsmacht untersagte nach den ersten etwa 1.000 verkauften Exemplaren den weiteren Vertrieb.
Bei den übrigen 9.000 Exemplaren mußte dieser Eintrag unkenntlich gemacht werden, bevor der Weiterverkauf im Jahr 1949 fortgesetzt werden konnte. Die Gebrüder Baedeker erhielten, wie ich der Literatur entnehmen konnte, wegen dieses ,,Vergehens“ keine weitere Lizenz mehr und mussten mit dem bereits vorbereiteten neuen Stadtführer von Stuttgart im Gepäck schließlich Leipzig in Richtung Westen verlassen, um den Verlag fortführen zu können.
Aber, ich hab ja so ein selteneres Exemplar – hier rechts der unzensierte Gohliser Kartenausschnitt.
Ausflug zum Südfriedhof
Auf dem Leipziger Südfriedhof kann man, nahe der Kapellenanlage, die Grabstätte der Familie Baedeker in der Abteilung VI besuchen.
Den angebrachten Tafeln ist zu entnehmen, dass sich hier folgende Gräber befinden:
- Fritz Baedeker und seine Frau Flöry,
- Ernst Baedeker und seine Frau Hedwig mit ihrem neugeborenen Sohn,
- Hans Baedeker und seine Frau Martha.
Gedenktafeln wurden für die (hier nicht begrabenen) Familienmitglieder zusätzlich aufgestellt:
- Dietrich Baedeker und seine Frau Malve,
- Hans (Johannes) Baedeker und seine Frau Johanna und
- Karl Baedeker.
(um Verwirrungen zu vermeiden, siehe Quellenangabe zum Stammbaum)
Die Familien-Grabstätte ist gut erhalten und wird offenbar regelmäßig gepflegt. Bei unserem Besuch am 29. Juli 2017 war ein kleines Blumenkissen an den Gräbern zu sehen.
Quellen:
Baedekers Leipzig, ein neuer Führer, in Arbeitsgemeinschaft mit Karl Baedeker verlegt vom Bibliographischen Institut, Leipzig 1948 (Verlags-Lizenz Nr. 345)
Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Karl_Baedeker und https://de.wikipedia.org/wiki/Baedeker-Reisef%C3%BChrer#Baedeker_von_1945_bis_1949_in_Leipzig
Interessante Literaturhinweise:
Baedeker, Verlag und Redaktion: http://www.baedeker.com/verlag-und-redaktion/
Baedeker Datenbank und Kenner-Referenz (bdkr.com)
Stammbaum der Familie Baedeker: http://www.bdkr.com/rul.php?art=236
Susanne Müller: Die Welt des Baedeker, eine Medienkulturgeschichte des Reiseführers 1830 – 1945, Campus Verlag 2012
Ich bin immer wieder überrascht was Du alles zusammenträgst ! Danke! Nachkriegsgeschichte pur.
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In der kurzen Geschichte stecken gut fünf Wochen Freizeit-Recherche drin. Und es wurde nur das veröffentlicht, was belegbar ist und von dem ich meine, dass es auch andere interessieren könnte. Und es macht Freude, wenn es auch anderen gefällt …
Grüße an alle historisch Interessierten!
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