Volkmarsdorf ist ein gutes Beispiel für den früheren Straßen-Wirrwarr in der Leipziger Gegend.
Genauer betrachtet soll es hier in diesem Beitrag um die ehemalige Kirchstraße gehen (heute: Hermann-Liebmann-Straße), die zwischen der Wurzner Straße und der Eisenbahnbrücke nach Schönefeld verläuft. Diese Straße führte vor der Eingemeindung der Ostvororte durch die selbständigen Gemeinden von Volkmarsdorf, Neuschönefeld und Neustadt. Straßen-Bezeichnungen und Grundstücks-Nummerierungen wurden in diesem Zeitraum recht abwechslungsreich bis verwirrend gehandhabt.
Deshalb hier der Versuch das Ganze etwas zu entwirren …
zuerst eine Auflockerung
Der Wirrwarr bedeutet nach dem digitalen Wörterbuch so viel wie völliges Durcheinander, Unordnung. [Quelle #1]
Daraus läßt daraus ableiten:
- Wirrwarr ist ein Substantiv – Unordnung wird daher groß geschrieben (!),
- der Wirrwarr männlich – wer hat das so festgelegt (?!) und
- Wirrwarr gibt es nur im Singular (der Einzahl) – wirklich (?), na dazu möchte ich ganz am Schluss nochmals Bezug nehmen.
Seid ihr jetzt etwas aufgelockert und heiter?
😉 😉 😉
Dann beginne ich hier mit dem Kontrastprogramm,
mit Straßen und Häusern im Leipziger Osten.
1. Straßennamen-Wirrwarr
Die frühere Verbindungsstraße von der Landstraße über Wurzen nach Dresden zur Kirche nach Schönefeld durchquerte und tangierte bis zum Ende des 19. Jahrhundert die Leipziger Ostvororte Volkmarsdorf, Neuschönefeld und Neustadt.
In jedem dieser Vororte hatte diese Verbindungsstraße einen anderen Namen, der zum Teil auch mal geändert wurde.
– So hieß diese Straße in Volkmarsdorf zuerst im gesamten Gemeindegebiet Hauptstraße, später nur noch der untere Teil bis zum Bergplatz und ab der Berg-/ Bogislawstraße führte die Kirchstraße weiter nach Schönefeld.
– Im benachbarten Neuschönefeld wurde diese Straße als Kirchweg und
– im nördlichen Bereich als Randstraße der Gemeinde von Neustadt wieder als Kirchstraße bezeichnet.
Aber damit nicht genug der Viefalt, denn es gab auch einen …
2. Wirrwarr bei der Grundstücks-Nummerierung
Die Straßen-Nummerierung war in früheren Zeiten auch sehr gewöhnungsbedürftig. Allgemein gesagt, gab es zuerst gar keine Haus- oder Gebäudenummern: die Gebäude wurden nach dem Besitzer benannt. Erst als das mit zunehmender Gemeindegröße zu unübersichtlich wurde, hat man eine durchgehende Nummerierung eingeführt. Das ging zum Teil nach Baureihenfolge oder nach der Rangfolge der Besitzer. In unserem Beispiel an der (späteren) Kirchstraße sah das so aus:
– In Volkmarsdorf ist im Adreß-Buch des Jahres 1880 ist der Gutshof des Bergguts an der Hauptstraße noch mit der Nr. 1 (Rangfolge) ausgewiesen. Später hat man die Nummerierung nach dem Eintrag im Flurbuch der Gemeinde als Flurbuch-Nummer bzw. Parzellen-Nummer durchgeführt, da trug das Berggut beispielsweise die Nr. 45. Zur Zeit der Eingemeindung zur Stadt Leipzig (im Jahr 1890) waren die Grundstücke in der Hauptstraße beginnend inks mit ungeraden, rechts mit geraden Nummern bis zum Bergplatz durchgehend nummeriert. Ab dort weiter in Richtung Schönefeld führte diese Straße (wie oben bereits beschrieben) als Kirchstraße, im Abschnitt zwischen Bergplatz und Schulstraße wechselseitig ungerade/ gerade bis zur Nr. 10 nummeriert. Die Nummer 2 war ab dem Jahr 1866 das Rathaus von Volkmarsdorf. Ab der Nr. 11 erfolgte die Nummerierung allerdings auf der rechten Straßenseite in fortlaufender Nummernfolge (11, 12, 13, usw.) weiter in Richtung Schönefeld. Auch nicht ganz so einfach!
– In Neuschönefeld wurden die Grundstücke anfangs entsprechend dem Eintrag im Brandversicherungs-Cataster durchnummeriert. Da gab es z.B. im Jahr 1866 am Kirchweg die Hausnummern 112 bis 116, 132 bis 135 und 174 bis 177. Zur Eingemeindungszeit war das etwas übersichtlicher. Die Häuser am Kirchweg waren zwar durchgehend nummeriert, aber die Nummerierung begann im Norden an der Eisenbahnstraße mit der Nr. 1 und endete im Süden an der Gemeindegrenze zu Volkmarsdorf mit der Nr. 17. Also entgegengesetzt zur Nummerierungsweise in Volkmarsdorf und Neustadt. Oje!
– Im Bereich der Gemeinde Neustadt wurden die Grundstücke anfangs ebenfalls nach der Brandversicherungs-Catasternummer bezeichnet. In den 1870er Jahren bwurde die Nummerierung in der Kirchstraße, beginnend mit der Nr. 1 an der Eisenbahnstraße fortlaufend in Richtung Schönefeld festgelegt.
Somit lagen sich an der Eisenbahnstraße die Gebäudenummern 1 von Neuschönefeld (Kirchweg) und Neustadt (Kirchstraße) gegenüber, während sich auf der Volkmarsdorfer Seite dort an der Straßenkreuzung die Gebäudenummern 25 und 26 befanden.
Wahrlich ein Wirrwarr!!! Und deshalb gibt es …
3. Entwirrungsversuche
Mit der Eingemeindung von Volkmarsdorf, Neuschönefeld und Neustadt zur Stadt Leipzig wurde am 24. Februar 1890 durch den ,Rath der Stadt Leipzig‚ in einer Amtlichen Bekanntmachung (Dr. Georgi) folgendes beschlossen:
,,Ferner ist von uns beschlossen worden, die Kirch-Straße in Leipzig-Neustadt, den Kirch-Weg in Leipzig-Neuschönefeld, die Kirch-Straße und Haupt-Straße in Leipzig-Volkmarsdorf mit dem gemeinsamen Namen Kirch-Straße zu benennen und die Um- und Neunummerirung dieser Straßen wie nachersichtlich, und zwar auf der einen Seiten mit den geraden, auf der anderen Seite mit den ungeraden Zahlen vorzunehmen.“ [Quelle #2]
Als Illustration dazu habe ich einen Auszug mit dem Straßenverlauf aus dem Leipziger Adreß-Buch des Jahres 1906 mit den Gemeindegrenzen untenstehend angefügt.
Dieser Amtlichen Bekanntmachung war eine kleine Tabelle mit den alten und neuen Straßenbezeichnungen und Hausnummern angefügt, in der zur besseren Übersicht auch die Brandkatasternummern (BKN) und die Hausbesitzer mit angegeben waren.
Damit man die angegebenen Grundstücke möglichst zweifelsfrei identifizieren kann, habe ich zusätzlich noch die Flurbuch- (bzw. Parzellen-) Nummern aus dem Adreß-Buch des Jahres 1906 in die Tabellen mit eingefügt. [Quelle # 3]
Ich denke, damit ist es möglich, auch mit den Angaben aus alten Karten oder Adressbüchern schnell einen Bezug zur heutigen Bebauung zu finden und damit hoffe ich ein wichtiges Hilfsmittel zur Entwirrung zu liefern. Infolge hier die Angaben für die um- und neunummerierte Kirchstraße (heute: Hermann-Liebmann-Str.) beginnend an der Wurzner Str.:
3.1 westliche Straßenseite (linke Seite)
Für Volkmarsdorf und Neuschönefeld, ab der Schulstr. [zuletzt: Marthastr., heute im Rabetpark] sieht das so aus:
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Für Neustadt sieht das wie folgt aus: (Bild rechts)
Mit den oben genannten Beispielen ergibt sich also folgende Konstellation:
– Das Haus Kirchstraße 39 [heute nicht mehr vorhanden] hatte auf dem früheren Areal des Bergguts von Volkmarsdorf (Flurbuch-Nr. 45) gestanden.
– Die früheren Nr. Einsen vom Kirchweg in Neuschönefeld und der Kirchstraße in Neustadt befanden sich auf den heutigen Grundstücken der Kirch- (bzw. Liebmann-) Straße 81 (Nsf.-Seite) und 83 (Nst.-Seite).
3.2 östliche Straßenseite (rechte Seite)
Da auf dieser Straßenseite alle Häuser auf Volkmarsdorfer Gebiet stehen, sieht das wie folgt aus: links die Häuser im unteren Straßenverlauf bis zur Bogislawstr. und rechts von dort bis zur Konradstr.
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und anschließend, hier rechts, die Häuser von der Konradstr. bis zur Eisenbahnbrücke nach Schönefeld.
Dazu noch folgende Anmerkungen:
– in den Ausgangs-Tabellen vom Jahr 1890 ist die Bebauung im nördlichen Bereich (L.-Neustadt) noch nicht abgeschlossen, daher habe ich zum Teil die BKN und Flurbuch-Nummern ergänzt,
– gemäß dem Beispiel für oben genannte Grundstücke findet das Volkmarsdorfer Rathaus, früher Kirchstr. 2 (Gemeindeamt), heute unter der Hausnummer Liebmannstr. 42 und
– die Eckhäuser auf der rechten Seite der Eisenbahnstr., früher Nr. 25 und 26, liegen heute im Bereich der Gebäude Nr. 84 und 86.
4. Epilog
Mit der Um- und Neubenennung und -Nummerierung konnte die Kirchstraße im Leipziger Osten im Jahr 1890 nach der Eingemeindung weitestgehend entwirrt werden.
Das war aber auch für weitere Straßenzüge erforderlich und erfolgte ebenfalls im ersten Quartal des Jahres 1890: z.B. für den Bereich der Eisenbahnstraße, der Rabetstraße und der Konradstraße.
Deshalb hatte ich eingangs angemahnt, dass in diesem Fall der Wirrwarr nicht nur im Singular, sondern eigentlich auch im Plural bestanden hatte.
Vielleicht schau ich mir deshalb demnächst das Thema Eisenbahnstraße nochmals genauer an? Dort war ja eine Straßen-Neunummerierung über fünf Ortsteile erforderlich:
Reudnitz, Neuschönefeld, Neustadt, Volkmarsdorf und Sellerhausen …
Literatur- und Quellenverzeichnis:
- Quelle #1: Digitales Wörterbuch der Deutschen Sprache, Wirrwarr, online: völliges Durcheinander, Unordnung Substantiv (Maskulinum) wird nur im Singular verwendet
- Quelle #2: Leipziger Tageblatt und Anzeiger, Ausgabe vom 2. März 1890, Seite 1, Amtliche Bekanntmachungen zur Straßenumbenennung, Kirchstraße
- Quelle #3: Leipziger Adreß-Buch 1906, online SLUB
- Literaturhinweis: meine pdf-Datei zur Kirchstraße
Der Wirrwarr war sogar noch größer. In Neustadt hieß die Straße zunächst Kirchweg, 1880, aber auch noch 1888, vgl. https://digital.slub-dresden.de/werkansicht/dlf/98401/170/0/
Hier wird als Kirchweg 3 der Gasthof Neustadt adressiert, als Kirchweg 4 das Bahngelände des Sächsischen Staatsfiskus.
Da der Umbenennungsbeschluss 1890 „Kirchstraße“ Neustadt schreibt, muss Ende 1888 oder 1889, noch vor der Eingemeindung, in der Gemeinde Neustadt die Umbennung von Kirchweg zu Kirchstraße beschlossen worden sein. Vielleicht hat man auch noch neue Hausnummern vergeben, denn die Lücke zwischen 2 und 3 war doch sehr groß.
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