In der heutigen Geschichte soll es um eine alte Gaststätte am Leipzig-Neustädter Lutherplatz gehen. Aber:
#1 Lutherplatz: Im aktuellen Leipziger Stadtplan oder in der aktuellen OpenStreetMap gibt’s in der ganzen Stadt keinen Lutherplatz.
#2 Gaststätte: Ebenso unauffindbar scheint heute auch eine Schankstätte an diesem ominösen Platz zu sein. Dort könnte es übrigens auch das Bier aus der alten Leipziger Ulrich-Brauerei gegeben haben.
Keine Idee – nirgends? Na, da wird es wohl Zeit, dass jemand Licht ins Dunkel bringt …
Als erstes schaun wir mal in die so hochgelobten Suchmaschinen im Netz: BING (vielleicht mit KI-Unterstützung?) und zu GOOGLE. Vielleicht ergibt sich da was?
0. Netz-Suche
Also, eingegeben:
„lutherplatz in leipzig“
1. BING: da gibt es keinen wirklichen Treffer für einen Leipziger Lutherplatz.
(Auch nicht mit der möglichen KI-Unterstützung …)
2. GOOGLE – ja, es gibt da einen Treffer
–> „Top-Rated.online: Lutherplatz“
zu einem Kinderspielplatz im Leipziger Osten an der Ecke Schulze-Delitzsch-/ Neustädter Straße,
unter anderen mit der Bewertung:
Unfortunately very dirty and not a nice destination with children – zugegeben, eben nicht gerade optimal!
Warum heißt dieser Straßenabschnitt hier (angeblich) Lutherplatz, könnte da ein historischer Bezug bestehen?
Wir gehen der Sache mal auf den Grund:
1. zur Baugeschichte
Wie war das genau mit der früheren Bebauung hier an der Ecke?
Das ursprüngliche Bebauungsgebiet von Leipzig-Neustadt lag auf Schönefelder Grund und Boden. Hier erstreckte sich die Feldflur mit der alten Bezeichnung Rabet. Ab 1866 wurden dort, im Süden von Schönefeld, die ersten Häuser gebaut – im sogenannten Neuen Anbau von Schönefeld (heute würde man vielleicht Neubaugebiet dazu sagen).
Im Flurbuch von Schönefeld, Neuer Anbau, kann man am 30. November 1871 einen Eintrag unter der Nr. 104 nachlesen, der den Erwerb eines Flurstücks Nr. 297 durch August Wilhelm Koch dokumentiert.
Und am 18. April 1872 ist im Flurbuch unter dem Eintrag Nr. 110 der Neubau eines Wohngrundstücks auf dem Flur-Teilstück Nr. 297b durch den Grundstückseigentümer vermerkt. [Quelle #1]
Ein Blick in die Bauakten dieses Grundstücks zeigt, dass ab dem 1. Juli 1872 dieses Wohngrundstück mit der Brandkatasternummer 72 zum Bezug freigegeben wurde. [Quelle #2]
Im damaligen Straßennetz des Neuen Anbaus lag dieses Grundstück an der Ecke folgender Straßen:
- Straße I , ab Oktober 1873 Hauptstraße, heute Neustädter Straße,
- Straße V, ab Oktober 1873 Alleestraße (1913 bis 1949 Wissmannstraße), heute Schulze-Delitzsch-Straße
- Straße VI (älteste Straße im Wohngebiet, früher Schönefelder Spritzenweg), ab Oktober 1873 Alleestraße (1906 bis 1945 Tauchaer Straße), heute Rosa-Luxemburg-Straße [siehe Blog-Beitrag über alte Straßen von Neustadt].
2. Gaststätten-Geschichte
Vermutlich waren bereits bei der Erstbebauung des Grundstücks mit der Haus- und Brandkatasternummer 72 im Erdgeschoss Gaststättenräume vorgesehen. Der ursprüngliche Zugang zur Gaststätte erfolgte, lt. vorliegender Bauzeichnungen, über den Durchgang zum bzw. über den Innenhof des Grundstücks.
Aus alten Adressbüchern ließen sich folgende Hausbesitzer / Gaststättenbetreiber ermitteln:
1880 Alleestr. 1, Bes. Risse, Gustav, Handarbeiter
Hennig, Friedrich Wilhelm, Restaurateur und Productenhändler und
Hennig, Pauline, verehel.
1888 Alleestr. 1, Bes. Heinig, Friedrich Wilhelm, Restaurateur [Hennig = Heinig???]
1890 Alleestr. 1, Andrä, Wilhelm Hermann, Restaurateur
1891 Alleestr. 1, Andrä, Wilhelm Hermann, Gastwirth
1892 Alleestr. 1, Andrä, Wilhelm Hermann, Schänkwirth
1893 Alleestr. 1, Drodoffsky, E. Rich., genannt Löffler, Schänkwirth )*
1899 Alleestr. 1, Drodoffsky, Theresa, verw., Schänkwirthin
1901 Alleestr. 1, Kathe, Ernst, Schänkwirth
1901 bis 1923 Allee- bzw. Wissmannstr.1, Ernst Kathe, Gastwirt
1925 bis 1943 Wissmannstr. 1, Hulda Kathe, Gastwirtin [Quelle #3]
)* Schänkwirth Ernst Richard Drodoffsky ist, lt. Anzeige im Leipziger Tageblatt, am 12. Mai 1898 im Alter von (nur) 36 Jahren verstorben
Nach 1945 wurde mir für den Zeitraum vor 1948 bis nach 1949 als Gastwirt Bernhard Schumann genannt.
Folgende Bezeichnungen/ Namen der Gaststätte sind nachweisbar:
vor 1911 bis nach 1928 „Fuhrmannsheim“
vor 1937 bis nach 1943 „Kathe‘s Gaststätte“
vor 1953 bis nach 1970 „Zur Eins“
vor 1974 geschlossen [Quelle siehe pers. Mitteilungen A. Hönemann].
3. Straßenecken-Geschichten
Zur Geschichte an der Straßenecke und dem besagten Lutherplatz habe ich folgendes ermitteln können.
Als ein besonderes Ereignis wurde – auch im 19. Jahrhundert – das 400. Geburtstags-Jubiläum von Martin Luther gefeiert. Dazu wurde im damaligen Leipziger Vorort Neustadt eigens ein ,,Comite zur Lutherfeier“ gegründet, unter Vorsitz des Gemeindevorstandes. Laut Artikel im „Leipziger Dorfanzeiger“, vom 7. November 1883 wurde folgendes Programm aufgestellt:
,,Sonnabend, den 10. November, Actus in der Aula der hiesigen Schule und eventuell Beschenkung der Kinder;
am Sonntag, den 11. November (nach dem Festgottesdienst in der Schönefelder Kirche) feierliche Pflanzung einer Luthereiche, Abends Fackelzug durch den Ort, Rede und allgemeiner Gesang bei der Luthereiche, dann Zug nach dem Gasthofe, wo durch ein Militär-Concert die Feier abgeschlossen werden soll.“
Der Gemeinderat beschloss daraufhin, den Platz am Ausgang der Allee- (heute: Schulze-Delitzsch-) Straße und Haupt-(heute: Neustädter) Straße zur Bepflanzung der Eiche anzuweisen, dem ,,Luther-Comite“ einen Beitrag von 200 M aus der Gemeindekasse zu bewilligen. Er beschloss ferner auf einer Gemeinderatssitzung 1884 die Instandhaltung der Luthereiche nebst Einfriedung für alle Zeiten auf Gemeindekosten zu übernehmen. [Quelle #4]
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Damit erhielt der kleine Platz im November 1883 den Namen Lutherplatz. Die nordwestlich dieses Platzes neu errichteten Gebäude wurden in Richtung zum Platz mit den Nummern 1 bis 4 bezeichnet. Das ist auf dem (oben links) dargestellten Plan-Ausschnitt aus dem Jahr 1903 ersichtlich. Zugegeben, etwas eigentümlich – die betreffende Straßennummerierung beginnt nicht am, sondern auf der Straße zum Lutherplatz hin.
Das galt bis zum Jahr 1905. Ab dem Jahr 1906 wurden die Häuser Lutherplatz 1 bis 3 der Tauchaer Straße zugeordnet und das Haus Lutherplatz 4 als Neustädter Str. 44 umbenannt, siehe Eintrag aus dem Leipziger Adressbuch des Jahres 1906 (oben rechts).
Die ersten Nachweise zur Gaststätte bzw. den Gaststättenbetreibern aus Tageszeitungen habe ich in den Neujahrs-Glückwünschen der Leipziger Volkszeitung ab dem Jahr 1908 und mit dem Namen Fuhrmannsheim im Jahr 1910 entdeckt. Damals waren Ernst Kathe und seine Frau Besitzer der Gaststätte in der Neustädter Alleestraße 1, siehe nachfolgende Anzeigen [Quelle #5]:
Im Jahr 1919 erfolgten im Gaststättenbereich ein paar Umbauten. Aus den Bauzeichnungen habe ich die Fassaden- und Grundrissskizzen abgeleitet, siehe Abbildungen auf der linken Seite. Die Gaststätte erhielt nun auch einen Straßeneingang und ein neues Lokalfenster (links neben der Tür) an der Wissmannstraße.
Auf der rechten Abbildung kann man den nun nicht mehr benannten kleinen Platz erkennen. Die Hausnummerierung rings um den Platz ist schon eigenartig (von oben beginnend in Uhrzeigerrichtung): 44, 1, 42, 19, 64. Das war sicher nicht für Jeden gleich durchschaubar. [Erklärung: Neustädter Str. 19, 42 und 44, Wissmannstr. 1 (rot umrandet) und Tauchaer Str. 64]
Nachweislich wurden im Fuhrmannsheim (auch) das Leipziger Echt-Ulrich-Bier ausgeschenkt, wie nachfolgendes schöne Bild vom Verschluss einer 1-Liter-Flasche zeigt. [Bild-Quelle, siehe pers. Mitteilungen F. Heinrich]

Eine letzte Zeitungsanzeige aus dem Restaurant Fuhrmannsheim aus dem Jahr 1928 habe ich oben rechts abgebildet. Interessant ist dabei die Angabe „Inhaber Kathe“ – eigentlich müßte dort Frau Hulda Kathe stehen, die das Restaurant nach dem Tod ihres Ehemanns in den Jahren 1924/25 übernommen hatte. In einem Eintrag aus dem Fernsprechbuch vom Jahr 1938 wurde sie als Inhaberin genannt, siehe Bild rechts. [Quellen, siehe pers. Mitteilungen A. Hönemann]
4. Zugaben
Gibt’s denn keine Fotos von dieser Straßenecke?
Doch, ich hatte diese Ecke im Frühjahr 1981 fotografiert. Links ist der kleine Platz mit der Litfaßsäule, zwischen der Luxemburg- und Schulze-Delitzsch-Straße mit dem alten Baumbestand, zu sehen. Dahinter sind die beiden Eckhäuser Neustädter Str. 44 (links) und Schulze-Delitzsch-Str. 1 durch die noch unbelaubten Bäume zu erkennen. Gut zu sehen sind auch die Fenster im Erdgeschoss der früheren Gaststätte. Der Gaststätten-Eingang zur Schulze-Delitzsch-Straße ist bereits zugemauert und beide Häuser sind schon weitgehend unbewohnt …
Auf der rechten Seite habe ich einen Ausschnitt aus einem Projektplan vom Büro des Leipziger Chefarchitekten vom August 1984 etwas „aufbereitet“, der auch diesen Straßenabschnitt zeigt. Ich habe hier Straßennamen, Hausnummern und eine teilweise farbliche Hinterlegung der Grundstücke zur besseren Orientierung eingefügt. Das Grundstück Schulze-Delitzsch-Str. 1 habe ich rot umrandet. [Quelle #6]
Und wie sieht die Ecke heute aus?
Von der Bebauung auf der Ostseite des kleinen Platzes ist nicht viel übriggeblieben. Die Häuser in der Luxemburgstraße wurde bereits Mitte der 1980er Jahre abgerissen. Unmittelbar darauf auch die Häuser Neustädter Str. 44 und das Gaststätten-Eckhaus Schulze-Delitzsch-Str.1 mit dem Nebengebäude.
Inzwischen wurde, wie man auf dem Bild links aus dem Jahr 2019 sehen kann, der Fußweg am Platz verbreitert und auf den früheren Grundstücksflächen der abgerissenen Häuser ein Grünzug mit Spielplatz eingerichtet. Ihr erinnert Euch: dort standen früher mal die Häuser mit den Straßennummern Lutherplatz 1 bis 4.
Und – auf dem aktuellen Plan von Google-Maps/-StreetView wird sogar der Platz wieder erwähnt. Wenn Ihr auf die Vergrößerung der rechten Abbildung schaut, dann könnt Ihr die Bezeichnung „Lutherplatz“ lesen.
Damit ist doch der Kreis geschlossen und die alte Bezeichnung vom Lutherplatz wieder ein Stück in den Sprachgebrauch zurückgekehrt!
Literatur- und Quellenangaben
Literatur
- eigene Leipziger Stadtpläne 1903, 1919
- eigene Fotos aus den Jahren 1981 und 2019
- eigene Skizzen zum Gebäude am Lutherplatz
- eigene Blog-Beiträge:
– über die Heilig-Kreuz-Kirche in Neustadt-Neuschönefeld, vom Oktober 2014, - – über Straßen und Plätze auf Neustädter Gebiet, vom Februar 2015 und
– Das Rabet, vom - Kartenausschnitt aus Google-Maps/StreetView, aktuell 2023
Quellen
- Quelle #1: Stadtarchiv Leipzig, Flurbuch über das im II. Steuerkreise im Stadtbezirke Leipzig liegende Rittergut und Dorf Schönefeld bei Leipzig, Nachtrag Schönefeld, Neuer Anbau 1840
- Quelle #2: Stadtarchiv Leipzig, BauAkt. Sign. 8730, Bauakte zum Grundstück Schulze-Delitzsch-Str. 1
- Quelle #3: Adressbücher der Leipziger Vororte und der Stadt Leipzig (LAB) aus Sächsische Landes- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), Neustadt (b. Leipzig) und Leipzig, online
- Quelle #4: Stadtarchiv Leipzig, Leipziger Dorfanzeiger, Amtsblatt für die Königliche Amtshauptmannschaft Leipzig …, Jahrgang 33 (1883), vom Mittwoch, dem 7. November 1883, Seite 9 und Samstag, dem 8. Dezember 1883, Seite 22 zum 400. Geburtstag Martin Luthers
- Quelle #5: Anzeigen aus der Leipziger Volkszeitung der Jahre 1908 bis 1928, SLUB Dresden, online
- Quelle #6: Kartenausschnitt Leibniz-Institut für Raumbezogene Sozialforschung über Link leibniz-irs.de / Wiss. Samml., Ausschnitte mit Signatur IRS_A_05_09_28-03, Karte des Bestandes, Stand August 1984
persönliche Mitteilungen
Andreas Hönemann unterstützte mich bei der Recherche zur Geschichte der Gaststätte an der Ecke vom früheren Lutherplatz und stellte mir dazu Anzeigen aus der Leipziger Volkszeitung und einem alten Fernsprechbuch zur Verfügung.
Fotos von alten Keramik Flaschenstopfen der früheren Leipziger Brauerei Ulrich mit freundlicher Genehmigung vom Sammler und Historiker Frank Heinrich.
Vielen Dank an die Unterstützer, ohne Euch wäre ich nicht so schnell voran gekommen und hätte nicht so schöne „Zeitzeugen“ gefunden!