[Im Neustädter Markt Journal, Heft Nr. 23 im Juli 1993 auf Seite 8 ff. erschienen.]
Ein paar Worte über den Geschichtenschreiber …
vom Neustädter Markt-Journal und wie seine Familie im Leipziger Osten wohnte.
Obwohl meine Frau und ich bereits seit 1972 verheiratet waren, dauerte es noch bis zum September 1975, bis wir unsere ersten eigenen vier Wände beziehen konnten. Zu dem Zeitpunkt war uns dann fast jede Wohnung recht – sicher ist es vielen so gegangen, die zu DDR-Zeiten nicht die erforderlichen „Beziehungen“ hatten. Und – es war doch nicht alles gut im realen Sozialismus zu DDR-Zeiten, wie so manche heute meinen, die das aber meistens gar nicht erlebt haben.

L.-Neuschönefeld, Melchiorstr. 14, Erdgeschoss
Unsere erste Wohnung bezogen wir in Leipzig-Neuschönefeld in der Melchiorstraße 14 im Erdgeschoss. Der Begriff Erdgeschoss war wörtlich zu nehmen – unter den Dielen war die blanke Erde, ständig waren allerlei Haustiere (Ameisen, Asseln, Spinnen) in der Wohnung. Insgesamt hatten wir für die 16 m² Wohnfläche genau 11 Mark Miete zu bezahlen.
Vom Treppenhaus kommend hatten wir zwei Wohnungstüren: eine direkt in die Küche, die andere ins Wohnzimmer, das allerdings anfangs nicht bewohnbar war. (Dielen und Decke kaputt). Im Haus gab es fünf Mietparteien. Über den kleinen Hof hinüber hatten wir einen Schuppen für Holz und Kohlen. Daneben war der Abort: ein langes Holzbrett mit drei kreisrunden Löchern. Da es an diesem Örtchen kein Licht gab, hatte man eine Lattentür mit großen Latten-Zwischenräumen angebracht, so dass es etwas hell war und man sehen konnte, wenn etwa jemand kam.
Im Februar 1976 vergrößerte sich unsere Familie, unser Sohn Oliver wurde geboren. Da waren wir froh, als es im Februar 1976 plötzlich hieß, dass das Haus wegen Baufreiheit für den künftigen Rabet-Park kurzfristig abgerissen werden müßte.
Gründonnerstag zogen wir bereits um, in eine Mansarden-Wohnung in der Schulze-Delitzsch-Straße 16 (4. Etage rechts). Das Haus gehörte der Erbengemeinschaft Richter. Für unsere 25,4 m² Wohnfläche hatten wir bei Frau Richter, schräg rüber neben der Schule, 27,65 Mark an Miete zu bezahlen. Gemeinsam mit der Nachbarfamilie hatten wir eine halbe Treppe tiefer zu sechst ein AWC. Da wir gut befreundet waren, gab’s nur Probleme, wenn jemand viel Besuch bekam. Eine Treppe tiefer kam man nicht so gut miteinander aus: jede Mietpartei hatte eine eigene „Familien-Klobrille“, mit der sie im „Bedürfnisfall“ die Treppe hinunter mussten. Unser Keller war feucht und stand nach Wasserrohrbrüchen im Winter häufig unter Wasser. Dann mussten mit Eimern so etwa 300 bis 500 Liter schmutziges Wasser heraus geschöpft werden.
Wir wohnten direkt unter dem Dach. Im Sommer hatten wir oft mehrere Tage und Nächte über 30° C in der Wohnung. Aber wir hatten einen interessanten Ausblick über die Dächer (und Antennenwälder) Leipzigs.
Ab Januar 1979 besuchte unser Sohn Oliver den Kindergarten an der Hermann-Liebmann-Straße und am 4. September 1982 wurde er in die Wilhelm-Wander-OS eingeschult. Ich gehörte zur Elternvertretung (damals Elternaktiv genannt) der Schulklasse. Häufig gab es Probleme: fast jährlich wechselte der Klassenleiter, der bautechnische Zustand der Schule war schlecht und immer wieder gab es Probleme mit den schlechten Familienverhältnissen von Mitschülern. Seit dem Jahr 1982 war ich außerdem Mitglied im WBA 102 (WBA: Wohnbezirksausschuss, heute etwa als Bürgervertretung bezeichnet), um auch im Wohngebiet, wie ich anfangs hoffte, Einfluss auf die mangelhafte sozialen und Wohnverhältnisse nehmen zu können. Aber vom sozialistischen Staat und der Stadt gab es nur wenig Unterstützung. Wir sagten sarkastisch dazu „Ruinen schaffen ohne Waffen“.
Im Stadtarchiv durfte ich als WBA-Mitglied aber ausnahmsweise mit „gesellschaftlichem“ Auftrag über Wohngebietsgeschichte recherchieren. Daraus sind dann die ersten Beiträge zur Neustädter Regionalgeschichte entstanden.
Mit der Geburt unseres zweiten Sohns Moritz wurde es in unserer kleinen Wohnung viel zu eng. Nach vielen Anläufen bei der Abteilung Wohnraumlenkung wurden uns verschiedene marode Ausbauwohnungen angeboten, zum großen Teil in aussichtslosem Zustand. Wir entschieden uns für eine auszubauende Wohnung in der Neustädter Straße 18 (2. Etage rechts). In der darüber liegenden Wohnung hatte es im Jahr zuvor gebrannt. Das Löschwasser hatte in der darunterliegenden, nun auszubauenden Wohnung ganze Arbeit geleistet: Decken, Wände und Fußböden waren katastrophal geschädigt. Insgesamt haben wir mir Unterstützung durch verschiedene Baubrigaden etwa 1200 Stunden in einem halben Jahr gebaut, ausgebessert und gemalert um den Einzugszustand am 9. Juli 1986 herzustellen.
Jetzt hatten wir 85,4 m² Wohnfläche zu viert, das war toll, und Miete bezahlten wir damals 55 Mark und 55 Pfennige. Eigentümer war die GWL (Gebäudewirtschaft Leipzig als kommunaler Eigentümer, Vorläufer der heutigen LWB). Zur Wohnung gehörte eine Bodenkammer, ein trockener Keller und außerdem waren (unsere erste) Badewanne und IWC eingebaut. Die Wohnlage an der Ecke Eisenbahnstraße war allerdings durch Verkehrslärm, aufgewirbelten Straßenstaub und schlechte Luft beeinträchtigt. Das Haus, in der Zeit nach 1880 gebaut, hat ein bemerkenswertes Wendeltreppen-Treppenhaus.
Ab April 1988 besuchte Moritz den neuen Kindergarten in der Konradstaße, gleich am Rabet-Park, wurde am 24. August 1991 in die 10. Grundschule an der Konradstraße eingeschult. Zwischen Schule und Kindergarten verlief die Melchiorstraße, in der wir unsere erste Wohnung hatten.
Die Melchiorstraße gibt es heute nicht mehr, der Straßenname wurde im Jahr 2006 aufgehoben.
Eigentlich hatten wir uns auf eine längere Wohn-Zeit in der mühsam ausgebauten Wohnung an der Neustädter Straße eingerichtet. Nach dem plötzlichen teilweisen Einsturz unseres Nachbarhauses Nr. 20 wurde unsere Wohnung zuerst zur Hälfte durch die Baupolizei gesperrt und einen Monat nach dem Unglück mussten wir aus Sicherheitsgründen ausziehen. Glück im Unglück: weg aus der Neustadt-Neuschönefelder Gegend.
Harald Stein, Leipzig.