… über die Neustädter Kinder

[Im Neustädter Markt Journal, im Heft  April 1995, ab Seite 9 erschienen.]

Historisches über die Neustädter Kinder

Hist-07Dieser Beitrag soll all den Kindern gewidmet sein, die häufig zwischen den Hinterhöfen, Ruinen, Mülltonnen und auf den kargen Straßen des Neuschönefelder und Neustädter Gebiets aufgewachsen sind und aus denen trotzdem etwas geworden ist.

Wir sind in dieser Gegend in den 70iger und 80iger Jahren dreimal umgezogen, wohnten in der Melchior-, der Schulze-Delitzsch- und der Neustädter Straße. In unseren Häusern gab es immer viele Kinder, in der Neustädter Straße 18 waren es zeitweise 21.
Die Familien wohnten oft in kleinen Wohnungen, ohne Bad oder Dusche und hatten meist AWC auf der halben Treppe. Hinten raus hatten die Häuser auch nicht viel zu bieten: enge, gepflasterte oder zubetonierte Höfe mit wenig Sonne und Grün zwischen den Hinterhäusern.

In der Entstehungszeit des Ortes muss es aber teilweise noch viel enger zugegangen sein. Die Wohnungsliste vom August 1874 wies in 88 bewohnbaren Grundstücken etwa 1100 Kinder aus, in einigen Häusern bis zu 41. Über die Hälfte der Kinder war damals unter 6 Jahren jung und sicher waren viele davon tagsüber allein zu Hause.
Die Wochenlöhne in den Leipziger Vorortbetrieben lagen mit 15 bis 30 Reichsmark relativ niedrig. Da mussten beide Elternteile den Lebensunterhalt der Familie sichern. Zum Vergleich: die Jahresmiete für eine kleine Wohnung lag zwischen 200 und 300 Mark.

Zur Kinderbetreuung boten sich auch bald private Kindergärten an. Ein erster privater Kindergarten wurde 1876 in Neustadt eröffnet (damals noch als „Schönefeld, Neuer Anbau“ bezeichnet).
Im ,,Leipziger Dorfanzeiger“ vom 8. Januar 1876 kann man darüber auf Seite 10 lesen:

,,Vom 10. Januar an eröffne ich eine Strick- und Spielschule, und erlaube mir die geehrten Hausfrauen besonders aufmerksam zu machen. Kinder von 3 1/2 Jahren an, und bitte um gütige Berücksichtigung. Schönefeld, Anb., Ludwigstraße 30, 3. Tr., Fr. W. Schumann.“

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Anzeige aus dem Adressbuch der Leipziger Ostvororte vom Jahr 1889

Damals wurden die Häuser noch nach Brandkatasternummern bezeichnet – nach heutiger Nummerierung das Haus Nr. 37.

Im Jahr 1880 übernahm Frau Margarete Lorenz diesen Privat-Kindergarten.

In der Marktstraße 28 (heute Meißner Straße 58) gründete Frau Bertha Schmidt Anfang der 80er Jahre einen weiteren Privat-Kindergarten. Aber der erwartete große Zuspruch blieb aus. Für Arbeiterfamilien mit mehreren Kleinkindern war so ein Privat-Kindergarten zu teuer.
Im ,,Reudnitzer Tageblatt“ vom 6. Februar 1885 Kann man folgendes lesen:

,,Neustadt. Das von Frl. Bertha Schmidt geleitete Kinderheim hat bis jetzt seitens unserer Einwohner nicht die Beachtung gefunden, die es verdient. Im vergangenen Jahr besuchten den Kindergarten 30, die Bewahranstalt 26 Kinder, für welche insgesamt 675 Mark vereinnahmt wurden, während sie Ausgaben 776 Mark betrugen.
Das Kinderheim nimmt die Kinder vom zurückgelegten zweiten bis zum vollendeten neunten Lebensjahr an und ist geöffnet früh bis abends 7 Uhr. Dasselbe zerfällt in den Kindergarten und in die Bewahranstalt, in welch letzterer die Kleinen auch Mittagskost erhalten. Als Beitrag wird erhoben für den Kindergarten monatlich 1 Mark, für die Bewahranstalt wöchentlich 50 Pf. „

Vom Neustädter Gemeinderat wurde dringend die Einrichtung eines öffentlichen Kindergartens gefordert. Unter der Aktenbezeichnung ,,Die Kleinstkinderbewahr-Anstalt betr., ergangen im Jahre 1884″ lassen sich noch heute diese progressiven Aktivitäten zurückverfolgen. Als Präzedenzfall wurde ein Unfall vom 18. Dezember 1884 herangezogen. Bei einem Wohnungsbrand in der Hedwigstr. 6 (heute Hedwigstr. 20) sprang das sechsjährige Mädchen Emma Böttcher in seiner Not aus dem Fenster der dritten Etage und brach sich beide Arme. Die Mutter war zur Arbeit gegangen und hatte die Wohnungstür verschlossen.

Der Gemeinderat forderte von der Schönefelder Rittergutsbesitzerin Frau Baronesse von Eberstein, der ja noch aller unbebauter Grund und Boden auf dem Gemeindegebiet gehörte, ein Stück Bauland zu günstigen Konditionen. Dieses Ersuchen wurde im Jahr 1885 abgewiesen. Unter Führung des Volkmarsdorfer Diakons Herrn Weichsel wurde am 20. März 1885 ein ,,Comitee zur Errichtung einer KinderbewahranstaIt in Neustadt“ gegründet. Nach fast fünf Jahren hatte man schließlich doch Erfolg.

In den „Acten der Gemeinde-Verwaltung Neustadt b. Leipzig“ kann man unter der Ablage „Die Kleinkinderbewhr-Anstalt, Abth. 5 Abschn. 3 No. 3“ kann man dazu lesen, dass die Fa. Bäßler & Bomnitz durch ihren Verwalter, Herrn Gnüchtel schenkungsweise 20.000 Mark überwiesen hatte: jeweils hälftig für Schulzwecke und die Errichtung einer Kleinkinder-Bewahranstalt.
Am 18. Oktober 1889 konnte damit im Haus Alleestraße 6 (heute Schulze-Delitzsch-Str. 13) endlich ein gemeindeeigener öffentlicher Kindergarten eröffnet werden.

Hist-63Vor ein paar Jahren erhielt ich vom Herrn Wohlrath aus Schönefeld ein Postkartenfoto vom Haus Mariannenstraße 71 aus dem Jahr 1907.
Ein Blick ins Leipziger Adressbuch zeigt den typischen Bevölkerungsdurchschnitt in diesem Haus:
,,pt. Fr. T. List, verwittwet Fr. W Guth, Heimbürgerin
1. Hr. C Reinhold, Kaufmann Hr. B. Wahl, Kaufmann
2. Hr. C. E. R. Schmidt, Postschaffner Hr. H. Gebauer, Flaschenbierhändler
3. Hr. M. Herrmann, Maschinenmeister (bis 1. April), Hr. G. Kaiser, Tapezirer (v. 1. April) Hr. W. Kuhnert, Arbeiter
4. Fr. E Schwendler, verwittwet Hr. A Colditz, Feilenhauer
HG (Hintergebäude) Tischlereiwerkstelle
G. Kaiser, Tapezirer (Werkst.)“

Auf dem Bild zehn Kinder, die sicher als Spielplatz zwischen Straße und Tischlerei-Hof notgedrungen wählen konnten. Vielleicht haben sie auch ,,Verstecken“ in den frischgetischlerten Särgen gespielt?…

Der heutige Kindergarten in der Hermann-Liebmann-Straße 99 wurde als öffentlicher Kindergarten des damaligen Stadtbezirkes Leipzig-Mitte am 23. Dezember 1963 übergeben.
In diesem Kindergarten ist auch unser ältester Sohn gewesen. Der Innenhof bot auf einem Hartplatz nur wenig Spielmöglichkeiten. Deshalb sind die Erzieher mit den Kindern lieber über die große Eisenbahnbrücke zum Spielen in den Mariannenpark gewandert.
Auf der Neuschönefelder Seite entstand an der Konradstraße im Jahr 1988 eine Kinderkombination (Kinderkrippe/Kindergarten), diese besuchte bis zu seiner Einschulung im Jahr 1991 unser jüngster Sohn. Gleich am Rabet-Park gelegen, nur ein kleines Stück vom Elsa-Park entfernt, hat uns diese Einrichtung mehr an den ,,Garten“ im Begriff erinnert als die triste Einrichtung an der Liebmannstraße.

Leipzig, im März 1995

 

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