Lehrjahre auf dem Pulverfass

Das ist mein persönlicher Beitrag zur mitteldeutschen Industriegeschichte.

Anfang der 1970er Jahre war ich als Lehrling im Böhlener Chemiewerk (südlich von Leipzig) unterwegs und habe schließlich in der Sauerstoffanlage, die zum Druckgaswerk gehörte, meinen Chemie-Facharbeiterbrief gemacht.

Aus heutiger Sicht war das damals eine andere Welt – ihr könnt mir gern mal folgen …



Das Böhlener Chemiewerk hieß damals VEB Otto Grotewohl Böhlen und war Teil des Petrolchemischen Kombinats Schwedt.
Zur ,Braunkohle-Veredelung‘, wie es zu DDR-Zeiten so schön hieß, wurde im Werk auch Sauerstoff in reiner Form benötigt, der in einem gesonderten Gebäude mit der Bezeichnung Sauerstoff-Anlage aus der Umgebungsluft gewonnen wurde. Wie in dem folgenden Bild aus dem Druckgaswerk zu sehen ist, war die Luft im Werk sehr speziell: viel Staub und Dreck, aber auch gesättigt z.B. mit Schwelerei-Abgasen und dem ,Böhlener Allerlei‘ von Kohlenwasserstoffen, darunter auch kurzkettigen Verbindungen wie Acetylen (C2H2) – ich komme später nochmals darauf zurück.

von links: Brikettfabrik, Winkler-Generatoren, Kühlturm und Kraftwek Lippendorf

Das Prinzip der Sauerstoff-Gewinnung war mir als auslernender Lehrling natürlich geläufig: die angesaugte Umgebungsluft wurde gefiltert und mit Hochdruck-Kompressoren auf 200 atü verdichtet (entspricht einem Druck von etwa 20 MPa). Anschließend wurde die gekühlte Luft über eine Düse entspannt und dadurch verflüssigt – wir sprechen von Temperaturen bei – 196 °C (!!!). Wenn man die flüssige Luft dann langsam erwärmt, dann kann man, ganz allgemein gesagt, den Sauerstoff bei – 183 °C herausdestillieren. Aber, die ganze Geschichte ist nicht ganz ungefährlich, weil hoch konzentrierter Sauerstoff Verbrennungsprozesse beschleunigt. Sogar Metalle sind in diesem Zusammenhang bei geringstem Zündfunken leicht entflammbar.
Während meiner Lehrzeit war im Untergeschoss der Anlage ein Monteur bei Schweißarbeiten bei lebendigem Leib verbrannt. Das war schon eine kreuzgefährliche Sache mit dem Sauerstoff. Dazu kam noch, dass der Arbeitsplatz des ,Anlagenfahrers‘ faktisch auf dieser Destillationskolonne (namens ,Trennapparat‘) saß – der Platz auf dem Pulverfass! Nach meinem Lehrabschluss war ich, siehe folgender Auszug aus meinem Arbeitsvertrag, als ,Maschinist für Trennapparate“ in der Sauerstoff-Anlage eingestellt worden.

Die folgenden Bilder sind im September 1972 in der Sauerstoff-Anlage des Böhlener Druckgaswerks aufgenommen worden. Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass es sich um „Lost Places“-Aufnahmen handelt – weit gefehlt: das war damals mein, mitunter etwas düsterer Arbeitsplatz …
Das Bild links zeigt eine Frontansicht mit meinem Arbeitsplatz am ,Trennapparat Nr. 2′ (Bildmitte). Wichtig für den Trennapparate-Fahrer waren die langen Anzeigeröhrchen in der Bildmitte: dort wurde der Füllstand des ,Hauptkondensators‘ angezeigt – ein hoher Stand war ein Maß für eine gute Arbeit. 😉 😉

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Auf dem rechten Bild ist eine ,Schaltmaschine‘ zu sehen, faktisch eine Maschine die mit einer speziell eingerichteten Zahnrad-Übersetzung den analogen Programmablauf zur Ansteuerung vorgibt – ein äußerst robuster Analog-Computer aus dem Jahr 1942 (!)

Unten links eine etwas düstere Ecke zwischen vielen Rohren und Stellrädern, die beim Hoch- und Runterfahren der Anlage bedeutsam ist.

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Rechts im Bild der Trennapparat Nr. 1. Auf dem Trennapparat steht (wenn man’s weiß oder genau hinschaut) ,,Jugendobjekt“. Das war ein Arbeitsplatz vorwiegend für junge Maschinisten. Am Schreibpult mit dem Schichtbuch sitzt hier im Bild mein damaliger Kollege und Mit-Jugendlicher Manfred R. Neben ihm auf dem flachen Tisch ist eine kleine Analysen-Apparatur zu erahnen (auch ganz rechts im Bild am benachbartem Platz). Damit musste einmal pro Schicht der Acetylen-Wert ermittelt werden, um die Feuergefahr an der Anlage bzw. mögliche Explosionsgefahren zu minimieren. Das war aber bei ,austauscharmer Witterungslage‘ (DDR-Sprachgebrauch – westlich der Staatsgrenze ,Smog‘ genannt) eine schwierige Sache, weil sich dann die kurzkettigen Aromaten wie C2H2 schnell angereichert haben. Laut Arbeitsanweisung sollte dann 2 x pro Schicht analysiert werden. Das hat aber die Ursache nicht wirklich geändert. Aber, man konnte in den glücklicherweise seltenen Fällen ja schließlich den Meister alarmieren …
Links vor dem Trennapparat 1 ein Niederdruckverdichter, rechts daneben ein Schieber mit Hand-Drehrad, an dem zwei ,Schieberklauen‘ eingehängt sind. Schieberklauen waren die liebsten Handwerkzeuge der Maschinisten, um hartnäckige Schieber und Ventile zu öffnen.

Anmerkung: Das Druckgaswerk Böhlen wurde am 15. Mai 1973 planmäßig stillgesetzt und anschließend rückgebaut – heute gibt’s dort auch keine Ruinen mehr für eventuelle „Lost Places“-Aktivitäten …


Quellenverzeichnis:
alles eigene Fotos vom September 1972
und Auszug aus meinem Arbeitsvertrag

2 Gedanken zu “Lehrjahre auf dem Pulverfass

  1. Hallo,

    ich habe viele Jahre später im Chemiewerk gelernt. Zu der Zeit nannte sich der Laden „Sächsische Olefinwerke AG, Böhlen“. Ich erlernte dort den Industriemechaniker FR Betriebstechnik, also der Instandhalter. Allerdings war da nicht viel zum Instandhalten, da wir hauptsächlich zum Abbau des Altwerks eingeteilt waren. Das war 1990-1994 eben so.

    Grüße
    Henning

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  2. Ich habe genau an dieser Stelle den Beruf eines Instandhaltungsmechaniker erlernt. Hauptwerkstatt von 1974 bis 76 . Die Situation war eher die,das wir nur noch geflickt haben haben,an statt zu Reparieren. Anlagen aus den 40 Jahren . Ich kann mich noch sehr genau erinnern.

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