
Die Leipziger Straßenbahn hat nicht nur das Leben unseres Urgroßvaters Ernst Richter beeinflusst – wir haben da um 1980 herum in Leipzig auch so manche Geschichten mit der Straßenbahn und ihren Mitarbeitern erlebt.
Zwei dieser Geschichten und eine passende Kommentar-Zuschrift aus dieser Zeit möchte ich heute hier im Blog-Beitrag präsentieren.
Vielleicht könnt Ihr (Älteren) das auch nachvollziehen – und (Ihr Jüngeren) habt auch Spaß daran …
,,unsere 22″ und Gunter S.
Ende der 1970er Jahre hatten wir einen guten Bekannten, Gunter S., der nebenberuflich Straßenbahnfahrer war und hauptsächlich auf der Linie ,,22″ eingesetzt wurde.
Das war für uns, meine Frau, unseren 3-jährigen Sohn Oliver und mich, durchaus vorteilhaft.
Nein – nicht was Ihr vermutet, bezahlen mussten wir trotzdem! Es ging, genauer gesagt, um eine mitunter angenehme Führerstand-Mitfahrgelegenheit.
Ein Beispiel.
Wir wohnten damals in der Neustädter Schulze-Delitzsch-Straße und haben oft einen Ausflug zum Völkerschlachtdenkmal mit den umliegenden Parkanlagen und dem Südfriedhof unternommen. Zurück ging es in der Regel mit der ,,22″. Und wenn wir dort vorn im Triebwagen unseren Gunter als Fahrer erspäht haben, dann haben wir ihm zugewunken und er ist mit der Bahn an der Haltestelle so geschickt eingefahren, dass wir genau am Vordereinstieg standen. Ein Halt – speziell für uns!
Die damals im Einsatz befindlichen alten Pullman-Triebwagen hatten für den Fahrer als Schutz vor Zugluft und drängelnden Fahrgästen einen dicken Filzvorhang. Unter den durften wir drei dann mit auf die Fahrerseite wechseln. Zusätzlich hat Gunter beim Anfahren und an Straßenkreuzungen natürlich auch mal zu seiner Freude extra die Warnglocke gebimmelt: ,,Bamm – Bamm – Bamm …“ – für unseren Sohn (und auch für uns) war das natürlich immer ein tolles Erlebnis. Und Gunter ist an den Haltestellen immer so weit vorgefahren, dass nur wenige oder bestenfalls keine Fahrgäste vorn mit einsteigen konnten. So ging’s über die Lenin Straße, Riebeckstraße, Breite Straße, Erich Ferlstraße bis zur Liebmann-/ Ecke Thälmannstraße nach Hause.
Anfang der 1980er Jahre haben wir Gunter nicht mehr auf ,,unserer 22″ angetroffen, wir haben auch privat nichts mehr von ihm gehört. War er auf eine andere Linie umgestiegen? Wie sich später herausstellte, war er bei einer versuchten Republikflucht festgenommen worden, wurde vom ,,Westen“ freigekauft und ist dann noch mehrere Jahre in Westberlin als Straßenbahnfahrer unterwegs gewesen …
Dazu passend …
Linie 22 und ein Kommentar
Zuschrift per e-Mail Frank K., Berlin 18.04.2022, 20:21:
Von 1960 an [arbeitete ich] als Schaffner bei den LVB [Leipziger Verkehrsbetriebe] und nach 1962 durfte ich dann auch Straßenbahnen fahren … bis Ende 1979.
Mein „Heimatbetriebshof“ war der in Reudnitz. Von dort habe ich alle Linien gefahren, die dort beheimatet waren. Also auch die Linie 22.
Also ist mir die beschriebene Ecke in der Hermann-Liebmann-Straße [Schöne Fragmente Konrad-/Ecke Liebmannstraße] noch in guter Erinnerung.
Bin ich doch sehr oft auch mit aussetzenden Wagenzügen dort vorbeigefahren. Lang ist es her …
Die Zeiten bei der Leipziger Bimmel habe ich noch im Kopf parat.
Wenn ich die Infos, die ich noch aus Leipzig bekomme, richtig deute, dann hat man irgendwie
in fernerer Zukunft die Absicht wieder die stillgelegte Strecke [der 22] wieder in Betrieb zu nehmen.
Anmerkungen [von mir]:
in der aktuellen Maßnahmenkarte zur Netzplanung der Leipziger Straßenbahnlinien aus dem Jahr 2020 gibt es tatsächlich ein Vorhaben mit der Bezeichnung B6, dass eine Wiederinbetriebnahme der Strecke auf der Liebmannstraße zwischen Wurzner und Eisenbahnstraße beinhaltet, siehe Karte unten links (vom diesjährigen Straßenbahn-Jubiläum).
Dazu muss ich aber erwähnen, dass die heutigen Gleisreste auf der Liebmannstraße große Lücken aufweisen. Das ist auch hier oben auf dem rechten Bild in Höhe der Konradstraße, vor dem Fabrikgebäude mit den ,,schönen Fragmenten“ gut zu erkennen.
über Helmut, Gerd und ein ,,Dispatcher-Veilchen“
In meiner Fotosammlung habe ich ein Bild von einem Barkas B1000 als Dispatcherwagen der Leipziger Verkehrsbetriebe entdeckt.
Hier steht er unweit von der Haltestelle der 17, 22 und 27 an der Kreuzung Liebmann-/ Thälmannstraße. Damals wurden diese Fahrzeuge bei der LVB, entsprechend ihres Funkrufnamens für Verkehrsbetriebe, ,,Veilchen“ genannt.
Zu unserem Bekanntenkreis zählte in den 1980er Jahren auch Helmut, ein LVB-Dispatcher, der in solch einem ,,Veilchen“ dienstmäßig unterwegs war und den wir häufig in der Stadt getroffen haben. Und das war meisten gut für uns, weil wir so schnell erfahren konnten, wenn es irgendwo bei der Straßenbahn ,,klemmte“. Dann bekamen wir auch sofort von ihm eine Ausweichvariante genannt …
Helmut hatte viele Freunde, war sehr humorvoll und eigentlich der glücklichste Mensch der Welt. Leider gab es aber im Jahr 1983 noch viele Leute, die seine Beziehung zu seinem Partner Gerd nicht akzeptierten. Seine Freunde hatten deshalb beschlossen, bei den Beiden in Ihrer Grünauer Wohnung zum Jahreswechsel 1983/84 eine große Silvesterfeier stattfinden zu lassen.
![]() | _ | ![]() |
Da sind wir dann alle mit unseren Partnern, Kindern und Freunden solidarisch hingefahren. Und das wurde ein gelungener, lustiger Jahresausklang!
Große Frage: wie kommen wir nun nach um Eins von Grünau im fernen Westen wieder in unsere Wohnung in der Schulze-Delitzsch-Straße im Osten der Stadt?
Das wurde generalstabsmäßig von Dispatcher Helmut gelöst: halb Zwei fuhr unten am Haus ein ,,Veilchen“ vor – wir waren kurz vor 2 wieder daheim.
Auf die Verkehrsbetriebe war Verlass… !
Hinweise:
Alle im Beitrag verwendeten Fotos stammen aus meinem persönlichen Archiv.
Verwendete alte Straßennamen:
- Leninstraße – heute Prager Straße
- Ferlstraße bzw. Erich-Ferl-Straße – heute: wieder Wurzner Straße
- Thälmannstraße bzw. Ernst-Thälmann-Straße – heute: wieder Eisenbahnstraße
Hinweis zum §175: Ab Ende der 1950er Jahre wurden homosexuelle Handlungen unter Erwachsenen nicht mehr geahndet. 1968 setzte die DDR ein komplett neues Strafgesetzbuch in Kraft, das in § 151 gleichgeschlechtliche sexuelle Handlungen mit Jugendlichen sowohl für Frauen als auch für Männer unter Strafe stellte. Mit Wirkung vom 1. Juli 1989 wurde dieser Paragraph ersatzlos gestrichen. [Quelle: wikipedia]