
Ein Haus in der Leipziger Kohlgartenstraße mit der Nummer 154?
Ihr meint: das gibt’s doch gar nicht, weil diese Straße bis zum Ende, an der Ecke Dresdner Straße, heute nur bis zur Nummer 58 reicht.
Naja und aber – kürzlich habe ich ein Foto von einem Porzellanteller mit einer Darstellung von diesem scheinbar unmöglichen Haus bekommen, siehe Bild rechts.
Ja, was ist da nun dran: wo könnte das Haus gestanden haben, wer hat da gewohnt und was ist aus diesem grünen Grundstück geworden?
Diesen Fragen möchte ich hier mal nachgehen …
Wie ich auf die exotisch anmutende Bezeichnung Kohlgartenstraße No. 154 gekommen bin?
1. Bestandsaufnahme
Auf diesem Grundstück soll früher der Reudnitzer Gutseigentümer und Eutritzscher Fabrikbesitzer Constantin Schulze gewohnt haben.
Das ist zum einen aus den Nachlass-Unterlagen im Staatsarchiv Leipzig zu entnehmen – dort heißt es auf der amtlichen Sterbeurkunde vom November 1865:
,,Dem Königl. Gerichtsamte Leipzig wird hiermit pflichtmäßig angezeigt, daß am 19. des Monats 1865 dieses Jahres um 3 Uhr des Mittags an Unterleibentzündung in dem unter Amtsgerichtsbarkeit gelegenen mit No. 154 bezeichneten Gute verstorben ist … Schulze Constantin, alt 53 Jahre, Gutsbesitzer hier.“ [Quelle #1]
Zum zweiten habe ich nach Erscheinen des Beitrags zur Konstantinstraße eine Zuschrift von Claudia K., einer Nachfahrin von Constantin Schulze, erhalten. Sie hat mir, neben dem Bild vom alten Porzellanteller mit dem Schulze’schen ,Sommerhaus in Reudnitz‚, auch Tagebuchauszüge von Otto Schulze übermittelt:
,,[Constantin] … heiratete 28.07.1844, gründete 1850 mit August Niemann die Fabrik Buchbindereien. Er kaufte 1859 das Hahnemannsche Gut und baute daselbst auch in der Kohlgartenstraße seine Villa.“
[Quellen siehe unten: Blog-Literatur und persönliche Mitteilungen]
Okay – soweit zur Bezeichnung Kohlgartenstr. 154.
Genauere Angaben zum Grundstück konnte ich aber zunächst nicht entdecken.
2. Erkundungen und Erkenntnisse
2.1 Villa Schulze
Das änderte sich erst vor etwa einem Monat. Bei einer allgemeinen Recherche zur alten Bebauung der Kohlgartenstraße bin ich im Stadtarchiv auf alte Unterlagen zum Grundstück Kohlgartenstr. 27 gestoßen. Bei der ersten Eintragung in der baupolizeilichen Akte vom 28. Januar 1859 geht es um den Neubau eines Gartenhauses auf dem Grundstück von Constantin Schulze. Ja, richtig, in dem Schriftstück geht es um den Constantin Schulze von der Firma Schulze & Niemann und den von der Konstantinstraße. In dieser Akte sind zu dem genannten Neubau auf dem Reudnitzer Flurstücken 20 a bis d auch ,, … Situationsplan & Grundriß des für Herrn Schulze zu Reudnitz Sub. 153 & 154 zu erbauenden Wohnhauses“ angelegt [Quelle #2]. Diese Hausnummer entsprachen den damaligen Brandkatasternummer in Reudnitz. Und ich gehe davon aus, dass Constantin Schulze mit Frau und ihren (bis dahin) 5 Kindern noch im Jahr 1859 hier in die ,,Villa Schulze“ eingezogen sind. Im Jahr 1861 hat sich die Familie Schulze hier in der Kohlgartenstraße noch um zwei weitere Kinder (Zwillinge) vergrößert.
Um zu zeigen, wie dieses Gartenhaus so etwa ausgesehen haben könnte, habe ich aus den Bauskizzen ein Ansichtsbild, mit Blick von der Kohlgartenstraße, angefertigt, Bild unten links.
Zum Grundstück gehörte auch ein Stück Land, dass später als parkähnlicher Garten mit Gärtnerhäuschen, Gewächshaus und Gartensalon ausgebaut wurde, siehe Situationsskizze aus dem Jahr 1873 rechts [nach Quelle #2, Blatt 28].
Passt diese Gebäude zum eingangs gezeigten Porzellanteller? Das Bild auf dem Teller sieht mit dem parkähnlichen Garten und dem zweigeschossigen Haus mit Blick von der Gartenseite etwas ähnlich aus, aber von den Gebäudedetails her passt das nicht ganz. Das Schieferdach war eigentlich schwarz und die Terrasse war seitlich vom Haus angeordnet. Akzeptabel vielleicht in der Form – das sieht so ähnlich aus wie das Garten- /bzw. Sommerhaus …
Anmerkung: Interessant auf der Lage-Skizze sind auch die dem Originalplan entnommenen Details mit der neu angelegten Constantinstraße, die das Grundstück im Osten begrenzt und der am Grundstück oben angrenzende Streckenverlauf der Verbindungsbahn vom Bayerischen zu den Nordbahnhöfen Leipzigs. Etwa ab dem Gewächshaus ist die Strecke in Richtung Nordwesten zweigleisig ausgeführt. Das wäre sicher auch ein interessantes Thema – ich möchte aber hier im Artikel nicht näher darauf eingehen …
2.2 Villa Bergmann
Constantin Schulze wohnte hier in der ,Villa Schulze‘ bis zu seinem Tod im Jahr 1865 nur sechs Jahre. Die Schulz’schen Erben haben das gesamte Grundstück mit der Villa schließlich im Jahr 1873 an die Leipzig-Reudnitzer Maschinenfabrik und Eisengiesserei verkauft und es gelangte somit in den Besitz des Firmen-Miteigentümers Carl Wilhelm Bergmann. In den Bauakten heißt es in einem Schreiben vom 28. November 1873 an das Königliche Gerichtsamt Leipzig I:
,,Die Gesellschaft der Leipzig-Reudnitzer Maschinenfabrik und Eisengiesserei vormals Goetjes Bergmann & Co. beabsichtigt auf ihrem Grundstücke Ecke der Constantin & Kohlgartenstraße, welches früher den Schulz’schen Erben gehörte, jetzt aber in den Besitz oben genannter Gesellschaft übergegangen ist, das im Garten nach der Verbindungsbahn zu gelegene Gewächshaus abzutragen bis auf die Mauern und nach beigefügten Zeichnungen eine Wagenremise und Kutscherstube sowie einen Pferdestall mit darüber befindlichem Bodenraum für Geschirr-Utensilien zu errichten. …“
Das Gebäude wurde jetzt natürlich nach den neuen Eigentümer als ,Villa Bergmann‘ bezeichnet und auch als Kontor der Firma Leipzig-Reudnitzer Maschinenfabrik und Eisengiesserei genutzt. Das große Firmengelände grenzte ja direkt an das Grundstück an. [siehe auch Quelle #3]
In dem Zusammenhang gab es noch eine Rand-Episode der Familie Schulze, genauer gesagt ging es um einen der Söhne von Constantin Schulze: Carl Oscar Schulze (*1848).
Carl Oscar Schulze war ab dem Jahr 1876 in die Leipzig-Reudnitzer Maschinenfabrik eingetreten und wurde ab April 1877 unter dem Berufsstand Techniker in Leipzig als Vertreter und Mitglied des Vorstands der diesbezüglichen Aktiengesellschaft im Handelsregister Leipzig unter Folium 3035 eingetragen.
Infolge der Insolvenz der Maschinenfabrik wurde er ab Juni 1878 bis Oktober im Handelsregister als Liquidator geführt. [Quelle #4]
Ich vermute, dass er während dieser Tätigkeiten oft in seinem früheren Vaterhaus zu tun hatte. Aus den Familien-Tagebuchaufzeichnungen geht hervor, dass Carl Oscar Schulze anschließend nach Australien ausgewandert ist und ab dem Jahr 1879 in Sydney als angesehener Ingenieur tätig war [siehe auch persönliche Mitteilungen].

Gegen Ende der 1870er Jahre wurde in der Kohlgartenstraße die fortlaufende straßenweise Hausnummerierung eingeführt, da trug die ,Villa Bergmann‘ die Hausnummer 13. Insgesamt hat Carl Wilhelm Bergmann hier elf Jahre bis zu seinem Tod im November 1884 gewohnt.
Aus den Angaben der Leipziger Adressbücher habe ich ermittelt, dass in den Jahren 1889 bis 1891 der Bauunternehmer Eduard L. Booch und ab 1892 bis 1996 der Kaufmann Rudolph P. Pörsch die Hauseigentümer waren.
Die Hausnummerierung wurde ab dem Jahr 1895 nochmals geändert. Jetzt wurden, wie heute noch üblich, alle Häuser auf der linken Straßenseite mit ungeraden Nummern bezeichnet: aus der Kohlgartenstr. 13 wurde somit die Nr. 27.
Bis zum Jahr 1895 war der frühere parkähnliche Garten des Grundstücks weitestgehend parzelliert und bebaut worden. Ringsum entstanden die Häuser
– Lutherstr. 16, 18, 20 und 22,
– C(K)onstantinstr. 1, 3 und 5 und
– Kohlgartenstr. 25.
Als letzter Lückenschluss wurde nach dem Abriss der Villa das Wohnhaus Kohlgartenstr. 27 durch den Architekten Emil Appenfelder errichtet. In einem Schreiben an den Rath der Stadt Leipzig ersuchte er am Dezember 1895 wie folgt um die Baugenehmigung:
,,… Der ergebenst Unterzeichnete hat das Grundstück L. Reudnitz, Kohlgarten-Str. No 27 käuflich erworben, beabsichtigt die darauf stehenden Baulichkeiten abzubrechen u. ein Vorderwohngebäude nach beifolgenden Zeichnungen zu erbauen. Dasselbe soll aus Keller, Erd- u. 4 Obergeschossen bestehen.
…
Einer gefälligen, baldigen Baugenehmigung entgegensehend, zeichnet Hochachtungsvoll
Emil Appenfelder“ [Quelle #2]
Aus den Zeichnungen der Bauakte habe ich unten links ein Ansichtsbild des Neubaus skizziert.
Nach Fertigstellung dieses Neubaus war die solide Bebauung der gesamten Fläche des früheren Schulze’schen Anwesens zwischen der Kohlgarten-, Konstantin- und Lutherstraße eigentlich abgeschlossen.
Eine gravierende Änderung der Bebauungssituation ergab sich allerdings im Dezember des Jahres 1943, als fast das gesamte Areal bei dem großen Bombenangriff auf Leipzig in Flammen aufging und als Trümmerwüste endete. Auf dem Bild oben rechts aus dem Jahr 1946 sind auf der linken Straßenseite die Trümmerreste der Häuser Kohlgartenstr. 27 und der Eckbebauung an der Konstantinstr. (Nr. 1 und 3) zu sehen. Nur das Haus Konstantinstr. 5 konnte repariert und ausgebessert werden, der Rest der Fläche wurde beräumt und begrünte sich anschließend.
Das schien für alle Zeiten so zu bleiben …
3. von Constantin zum ,Konstantinum‘
Erst nach der Wende, Mitte der 1990er Jahre, begann im nördlichen Bereich des ehemaligen Schulze’schen Grundstücks wieder eine Wohn-Bebauung. Das Haus in der Konstantinstr. 5 wurde in dieser Zeit abgerissen. Bis zum Jahr 2017 zeigte sich die Bebauung wie auf der GoogleEarth-Draufsicht, unten links dargestellt. Die frühere Schulze’sche parkähnliche Gartenanlage zwischen der Kohlgarten- und der Konstantinstraße, ihr erinnert Euch, war inzwischen wie man sieht wieder grün geworden.
Ein großes Wohn- und Gewerberaum-Projekt der Leipziger WEP-Gruppe mit dem Namen ,Konstantinum‘ entstand Mitte der 2010er Jahre und wurde im Juni 2018 zur Ausführung an BMO Real Estade verkauft. Insgesamt sollten hier auf der Fläche eines 3.800 m² großen Eckgrundstücks bis zum Jahr 2020 insgesamt 123 Wohnungen und bis zu 9 Gewerbeeinheiten entstehen. Das Foto, oben auf der rechten Seite, habe ich im November 2018 mit Blickrichtung zur Konstantinstraße aufgenommen. Die Grundsteinlegung zum Komplex des ,Konstantinum‘ erfolgte Ende März 2019 [Quellen #5 und #6].
Das finde ich schon sehr interessant: auf einem Großteil des früheren Constantin Schulze’schen Grundstück entsteht ausgerechnet ein Baukomplex mit dem Namen ,Konstantinum‘ – für Historiker eine schlüssige Sache!
Ob das die Projektanten gewusst haben? Ich bezweifle das und vermute, sie haben sich an dem Namen der Konstantinstraße orientiert – wer weiß?
Anmerkung: Schließlich war zu diesem Zeitpunkt ja auch noch nicht mein Beitrag zur Aufklärung des Straßennamens der Konstantinstraße erschienen. Der Namensgeber zur Konstantinstraße galt als im Straßennamensverzeichnis der Stadt Leipzig als ,,von der Person her nicht nachgewiesen“.
Auf der zweiten GoogleEarth-Draufsicht vom März 2020 sind bereits die zukünftigen Gebäudeabschnitte zu erkennen: in der Kohlgartenstraße wird es wieder Wohnhäuser mit den Hausnummern 17, 19 und 21 geben – in der Konstantinstraße gibt es dann wieder ein Nr. 1, 3 und 5 (die Hausnummern habe ich im Bild eingefügt).
Inzwischen werden die neuen Wohn- und Gewerberäume auch in den Immobilienportalen beworben (z.B. Immowelt, nuroa, quoka und anderen). Die ersten Wohnungen könnten ab sofort bezogen werden, steht auf den Immobilienseiten. So ganz fertig scheint man aber noch nicht zu sein wie man auf meinem aktuellen Bild von der letzten Woche sehen kann – die Gerüste stehen schon noch am Haus und die Zugänge sehen noch sehr abenteuerlich aus …
Als Kaltmiete werden in den Anzeigen übrigens Quadratmeter-Preise ab 10 Euro 50 genannt – das ist für diese Gegend sehr anspruchsvoll, meine ich.
Literatur und Quellenverzeichnis
Eigenes, Blog-Literatur:
Fotos, Skizzen zu Gebäuden und Karten aus eigenem Bestand
Wer war Konstantin?, August 2019
Schulze und Niemann, September 2019
Reudnitzer Industrie-Adel (1), Juni 2020 (Goetjes, Bergmann & Co)
Quellen:
Quelle #1: Staatsarchiv Leipzig, Best.-Signatur 20096, Amtsgericht Leipzig Nr. 9353: Nachlassregulierung für den Gutsbesitzer Carl Dionys Constantin Schulze in Reudnitz, 1865 bis1873, einschließlich Auszügen aus dem Grund- und Hypothekenbuch (Reudnitz)
Quelle #2: Stadtarchiv Leipzig, baupolizeiliche Akten Nr. 8990 zur Kohlgartenstr. 27, Brandkataster-Nummer Reudnitz 113 Abt. B.
Quelle #3: Stadtgeschichtliches Museum Leipzig (SGM), Fotothek,
– Bilder von Bergmann Villa, Kohlgartenstraße, etwa um 1880, siehe unter der SGM-Suchfunktion nach den Nummern Z0132265 und Z0132267
– Trümmerbild Kohlgartenstraße aus dem Jahr 1946 mit der Nummer Z0043804 (vielen Dank für die Erlaubnis zur Nutzung)
Quelle #4: Staatsarchiv Leipzig, Best.-Signatur 20124, Amtsgericht Leipzig Nr. 21031, Fol. 3035, Handelsregister Firma Leipzig-Reudnitzer Maschinenfabrik und Eisengiesserei, vormals Götjes, Bergmann & Comp.
Quelle #5: aus Deal: Leipzig, WEP verkauft Neubauprojekt Konstantinum an BMO Real Estate, 12.06.2018
Quelle #6: Grundsteinlegung für Neubauprojekt „Konstantinum“ der WEP-Gruppe in Leipzig, 28. März 2019
Quelle #7: Karten-Ausschnitte aus GoogleEarth, Bereich Leipzig, Kohlgartenstraße
Außerdem habe ich bei den Recherchen digitale Adressbücher und Zeitungsausschnitte aus der Leipziger Tageblatt und Anzeiger, beides aus dem Bestand der SLUB Dresden genutzt.
persönliche Mitteilungen:
Claudia K. übermittelte mir Bilder, Tagebuchauszüge von Rudolph Otto Schulze-Sander (*1850 in Leipzig als zweiter Sohn von Constantin und Alwine Schulze) und Erläuterungen zur Geschichte der Familie Schulze. Vielen Dank für die Nutzung und Genehmigung dieses Material hier im Blog zu veröffentlichen!
Vielen Dank für diese und die anderen sehr interessanten Geschichten aus 2020 und schon einmal einen „Guten Rutsch nach 2021“ wünsche ich Dir und deiner Familie!
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