
Kennt Ihr die Husemannstraße im Leipziger Osten?
Wo diese kurze Straße zu finden ist, wie sie zustande kam,
was es am Haus Nr. 3 mit den merkwürdig ausladenden großen Erdgeschossfenstern, einem möglichen Schriftfeld über diesen Fenstern hier im Bild rechts und
was es im Haus Nr. 1 mit einer zerrissenen Hose auf sich hat,
davon möchte ich Euch heute berichten …
Status
Die Leipziger Husemannstraße ist im Osten der Stadt, parallel zur nahegelegenen Kohlgartenstraße, zwischen der Klasing- und der Reclamstraße, zu finden.
Sie ist nur etwa 70 Metern lang. Und ich vermute, dass sie damit eine der kürzesten Straßen Leipzigs ist – zumindest die kürzeste Straße im heutigen Leipziger Ortsteil Neustadt-Neuschönefeld.
In der Husemannstraße gibt es derzeit nur noch drei Gebäude:
Nr. 1: ein Wohnhaus an der Ecke zur Reclamstraße,
Nr. 2: ein Schulgebäude (August-Bebel-Schule) und
Nr. 3: ein insbesondere in der Erdgeschosszone bemerkenswert gestaltetes Wohnhaus.
Ein Blick in die Liste der Sächsischen Kulturdenkmale zeigt, dass dort das Haus Husemannstr. 3 als ortshistorisch und baugeschichtlich von Bedeutung erwähnt wird [Quelle #1]:
Husemann- straße | Kulturdenkmale Neustadt-Neuschönefeld (wikipedia) | Kulturd.-ID | ||
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3 | Mietshaus in ehemals geschlossener Bebauung Datierung: 1887 (ehemals als Feuerwehrdepot erbaut) mit Tordurchfahrt, mit Läden, Putzfassade, ortshistorisch und baugeschichtlich von Bedeutung | 09294941 |
Das klingt doch sehr interessant, aber bevor ich zum Haus Nr. 3 komme, möchte ich zunächst klären, wie und warum es an dieser Stelle überhaupt zu einer Straße gekommen war.
ein Reudnitzer Straßen-Projekt
Der Anfang dieser Geschichte beginnt mit einem Ende:
mit dem Ende der alten Verbindungsbahn im Jahr 1878 zwischen dem Bayerischen Bahnhof im Süden und den Nordbahnhöfen Leipzigs und dem Rückbau der überwiegend eingleisigen Strecke. Danach ging das alte Bahngelände schließlich in kommunales Eigentum über. Zwischen der damaligen Reudnitzer Gemeindestraße und der Rathhausstraße war davon auch ein etwa 15 Meter breiter alter Bahn-Streifen betroffen.
Aber erst sieben Jahre später, im Jahr 1885, wurde vom Reudnitzer Gemeinderat der Bau einer Durchbruchs- bzw. Verbindungsstraße, damals als Fortführung der Seitenstraße, beschlossen. Ein großer Teil dieser projektierten Straße war bereits Gemeindeeigentum: ein Stück vom früheren Bereich der Verbindungsbahn und ein Grundstück an der Rathhausstraße. [siehe Bild unten, links und Literaturhinweis zur Verbindungsbahn]
Dem Leipziger Tageblatt und Anzeiger (Bild oben rechts) habe ich entnommen, dass bereits im Oktober 1885 mit dem Bau der Beschleußungsarbeiten und Anfang Februar 1886 mit dem Bau der Gebäude begonnen wurde. Die neue Straße wurde am 9. Februar 1886 vom Verfassungsausschuß des Reudnitzer Gemeinderats als Marschallstraße benannt.
Als erstes Wohnhaus wurde bis Anfang 1887 das große Eckhaus zur Rathhausstraße als Marschallstraße 1 gebaut und ab Ostern über die Tagespresse schließlich zur Vermietung angeboten.
ein Feuerwehr-Depot für Reudnitz
Auf dem an das Haus Nr. 1 angrenzendem Grundstück (damals mit Nr.2) sollte ein neues Feuerwehr-Depot entstehen, weil der alte Feuerwehrschuppen auf dem gegenüberliegenden Schulgrundstück für die stetig wachsende Gemeinde Reudnitz zu klein geworden war.
Im Herbst des Jahres 1886 beschloss der Gemeinderat auf dem gemeindeeigenen früheren Bahngrundstück ein neues Feuerwehr-Depot mit Steigerhaus und Geräteschuppen zu bauen. [Quellen #3 und #4]
Wie man nebenstehendem Grundriss entnehmen kann, wurde am neue Depot-Gebäude der Freiwilligen Feuerwehr von Reudnitz nicht gespart. Rechts vom Tor mit dem Eingang zum Treppenhaus und zum Hof waren noch drei weitere Tore für die Räume zur Aufnahme eines kompletten Feuerlöschzuges, der Feuerwehrgeräte und -Utensilien geplant.
Und in den vier Etagen über den Feuerwehrräumen waren Räume für Mietwohnungen vorgesehen.
Der Auftrag mit einer Bausumme von 67.000 Mark wurde Mitte des Jahres 1887 vom Gemeinderat bestätigt, am 1. August 1877 erfolgte der erste Spatenstich und laut unten links stehender Zeitungsnotiz konnte bereits am 8. Oktober 1887 das Richtfest für das neue Gebäude gefeiert werden.
Interessant an dieser Mitteilung ist, dass am selben Tag auch das Richtfest des gegenüber errichteten Schulflügel-Neubaus begangen wurde. Und auch ein neues Rathaus war ja im Bau – alles zusammen waren große Investitionen im Reudnitzer Gemeindegebiet.
Am 15. Mai 1888 fand, siehe auch Zeitungsartikel oben rechts, die feierliche Einweihung des neuen Feuerwehr-Depots statt.
Das Programm zur Einweihungsfeier lautete wie folgt:
- Nachmittags 5 Uhr: Versammlung im Schulhofe unteren Theiles.
- Ueberführung der Spritzen etc. nach dem Hofe des Neuen Depots.
- Ausstellung der Löschutensilien daselbst.
- Ansprache des Gemeindevorstands.
- Exerciten seiten der Freiw. Gemeindefeuerwehr.
- Zug nach dem Schlosskeller unter Musikbegleitung und Festcommers daselbst. [Quelle #4]
In der damaligen Tagespresse (Leipziger Zeitung) wurde die Einweihung in einem mehrspaltigen Artikel gewürdigt, aus dem ich hier auszugsweise zitieren möchte:
*Reudnitz, 16. Mai. Am gestrigen Nachmittag wurde, begünstigt vom prächtigsten Maiwetter, die Einweihung des neuen Feuerwehrdepots unserer Gemeinde vollzogen. An der Feier nahmen Theil der Amtshauptmann Herr Geheimer Regierungsrath Dr. Platzmann, ferner als Vertreter der Stadt Leipzig Herr Stadtrath Dr. Schmid, Herr Gemeindevorstand Größel, Mitglieder unseres Gemeinderathes, zahlreiche eingeladene Gäste, die Feuerwehr hierselbst und aus den umliegenden Ortschaften, Abgeordnete des sächsischen Feuerwehrverbandes, die Vertreter der Presse u.s.w.
Das war sicher ein wichtiger und interessanter Tag für die geladenen Gäste, die Feuerwehrleute, deren Angehörige und alle Zuschauer.
Unter Musikbegleitung setzte sich, nach Beendigung der Exerciten und nach kurzer Besichtigung der Räumlichkeiten, der Zug nach dem Schloßkeller zu in Bewegung, in dessen Saale sich nunmehr ein reges Treiben entwickelte.
Im Schlosskeller Reudnitz (etwa auf dem heutigen Grundstück des Kinos Regina) fanden natürlich viele Reden, Ansprachen und Danksagungen statt. Dabei wurde in der Zeitung auch der Hauptmann der Reudnitzer Feuerwehr, Herr Carl Friedrich Joachim genannt, den einige von Euch vom Beitrag über den Reudnitzer Landbrotbäcker Joachim kennen. Als beliebter Hauptmann der freiwilligen Gemeinde-Feuerwehr zu Reudnitz wurde ihm zu Lebzeiten bereits ein Feuerwehr-Marsch gewidmet, siehe Plakat rechts. [siehe Literaturhinweis]
Herr Dr. Platzmann als offizieller Vertreter der Stadt Leipzig ging in seiner Rede auf die Bedeutung der freiwilligen Feuerwehr im ländlichen Raum und insbesondere der (bis dahin unabhängigen) Gemeinde Reudnitz ein. Über den Ausgang dieser Abendveranstaltung schrieb der Zeitungs-Redakteur:
Noch manches frohe Wort wurde gesprochen im weiteren Verlaufe des sich immer lebhafter gestaltenden, von kameradschaftlichem Geiste durchwehten Festes und nur zu bald hatte dasselbe sein Ende erreicht.
Zur Illustration, was man damals unter einer modernen Feuerwehr-Ausrüstung verstand, habe ich unten im linken Bild eine zweicyindrige Feuerwehr-Dampfspritze der Leipziger Firma Jauck eingefügt. [Quelle #5]
Und über einen ersten Einsatz der Reudnitzer Feuerwehr aus dem neuen Depot berichtete das Leipziger Tageblatt Ende Mai 1888 bei der Bekämpfung eines Schadenfeuers in der nahegelegenen Brommestraße.
… und was daraus wurde
Durch die Eingemeindung von Reudnitz und Anger-Crottendorf im Jahr 1889 wurde auch das Feuerlöschwesen und das neue Reudnitzer Feuerwehr-Depot in die Stadt Leipzig integriert. Die Stadt Leipzig hatte eine Berufsfeuerwehr, aber im Bezirk der einverleibten Vororte Reudnitz und Anger-Crottendorf verblieb zunächst noch eine aus 77 Mann gebildete freiwillige Feuerwehr. [Quelle #6 und LAB]
Im Leipziger Adressbuch war im Haus Marschallstraße 2 (ab 1891 nach der Neuordnung der Hausnummerierung als Nr. 3 bezeichnet) bis zur Ausgabe im Jahr 1894 ein Feuerwehr-Depot verzeichnet. Und das stand damals bestimmt auch im Schriftfeld der Straßenseite über den großen Zugangstoren / heute Fenstern dran. Ich habe hier anschließend die Projekt-Skizze der Hausfassade mit den großen Toren mit dem derzeitigen Zustand in Fensterform gegenübergestellt. Da kann man sich den Schriftzug ,,FEUERWEHR-DEPOT“ im heute leeren Schriftfeld gut vorstellen.
Ab dem Jahr 1895 bis 1900 wird in den Adressbüchern in der Marschallstraße 3 nur noch die Feuerwehr-Stellfläche als Feuerwehr-Geräteschuppen erwähnt und ab dem Jahr 1902 bis 1921 war dort eine Volksküche / staatliche Speiseanstalt beheimatet. Danach wechselten die Betreiber: Papiergroßhandel, Wäscherei und andere.
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Hier noch ein paar Anmerkungen zu den anderen Gebäuden in der kurzen Marschallstraße:
- das Schulgebäude in der Marschallstr. 2 (heute Husemannstr. 2) wurde im Jahr 1889 als Mädchenflügel der späteren 8. Bürgerschule übergeben und ist heute Teil der August-Bebel-Grundschule
- das Haus Marschallstr. 5 wurde im Jahr 1911 als kleines dreigeschossiges Haus mit einer Grundfläche von 22,2 Meter Länge und nur 4,37 Meter Tiefe gebaut. Meinen Unterlagen nach ist es im zweiten Weltkrieg durch Bomben schwer beschädigt worden und wurde danach abgerissen, siehe Stadtplanausschnitt unten links.
- im November 1950 wurde die Marschallstr. in Husemannstr. umbenannt, siehe auch Text unten zu den Straßennamen.
Auf dem Bebauungsplan oben rechts ist im Zuge der Umgestaltung des Wohngebiets Kreuzstraße in einem Entwurf vom März 1984 zu erkennen, dass man damals auch die Unterbringung einer Schülergaststätte in den Erdgeschossräumen der Husemannstr. 3 für die 13. Polytechnische Oberschule in Betracht gezogen hatte, die aber schließlich, bei allen guten An- und Vorsätzen nicht realisiert werden konnte. [Quelle #7]
Auf den folgenden Bildern habe ich die Bebauungssituation zum Zeitpunkt der Umgestaltung im Bereich der Husemannstraße anhand von alten Bildkopien aus dieser Zeit, dem heutigen Bebauungszustand gegenübergestellt




Ergebnis:
aus dem damals fast unbewohnbaren, sehr rekonstruktionsbedürftigen Haus ist heute ein Schmuckstück geworden.
Ja, und was hat das mit der eingangs genannten ,,zerrissenen Hose“ auf sich?
Um das zu erkunden, geht mal in den Laden der Bäckerei Seifert in der Husemannstr. 1.
Wenn Ihr Glück habt, dann gibt es dort leckere Gebäckstücke, die unter dieser Bezeichnung angeboten werden …
zu den Straßennamen
Abschließend noch ein paar Anmerkungen und Erläuterungen zu den hier im Text verwendeten alten und neuen Straßennamen aus dem Leipziger Osten.
Die heutige Husemannstraße wurde nach Walter Husemann benannt, geb. 02.12.1909 in Ellerbeck, 13.05.1943 in Berlin-Plötzensee hingerichtet,
Walter und seine spätere Frau Marta waren bereits als Jugendliche im Kommunistischen Jugendverbands Deutschlands (KJVD), der Jugendorganisation der KPD organisiert. Beide arbeiteten als Informationszuträger für die Widerstandgruppe der „Rote, Kapelle“ während der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland. [Quelle #8]
Zur Herkunft des früheren Starßennamens Marschallstraße konnte ich im aktuellen Verzeichnis Leipziger Straßennamen mit Erläuterungen nichts finden, auch nicht in den Reudnitzer Gemeinderatsunterlagen aus den Benennungsjahr 1886. Dort ist nur zu entnehmen, dass offenbar bei der Straßenbenennung Einigkeit im Gemeinderat herrschte. Im Protokoll steht lediglich:
,,Vorgelesen, genehmigt und mit … vollzogen.„
Nebenbei habe ich herausgefunden, dass zu dieser Zeit, um 1875 bis 1886, auch eine Straße in Dresden neu als Marschallstraße benannt wurde und ich habe mal nachgeschaut, ob es dort eine Namenserläuterung gab. Im Namenbuch der Straßen und Plätze Dresdens von Adolf Hantzsch (1905) steht unter Marschallstraße
,,… seit 1877, benannt wohl in Anknüpfung an die im Sommer 1871 erfolgte Ernennung des Kronprinzen und späteren Königs Albert zum Generalfeldmarschall.“ [Quelle #9]
Ja, dem könnte ich mich anschließen – oder hat jemand einen besseren Vorschlag?
Anmerkungen zu den Straßenbezeichnungen im Beitrag:
- Brommestraße – ab November 1950 Harnackstraße
- Gemeindestraße – ab Januar 1936 Klasingstraße,
- Marschallstraße – ab November 1950 Husemannstraße,
- Rathhausstraße – ab Januar 1929 Reclamstraße,
- Schulstraße – ab Februar 1893 Comeniusstraße und
- Seitenstraße – ab Juli 1894 Teil der Kreuzstraße. [Quelle #2]
Literatur- und Quellenangaben
Literatur
Leipziger Adressbücher (LAB) der Jahre 1889 bis 1949, online SLUB Dresden
Zeitungsausschnitte aus dem Leipziger Tageblatt und Anzeiger der Jahre 1886 bis 1888,
der Illustrirten Zeitung vom 10. März 1884, S. 402: Fabrik für Feuer-Spritzen G. A. Jauck in Leipzig
eigene Fotos (April bzw. Okt. 2021), Ausschnitte aus eigenem Stadtplan 1912
eigene Skizzen zum Straßen- und Bauprojekt Feuerwehr-Depot Reudnitz
Hinweis auf eigene Blog-Beiträge:
Ode an die Brot- und Kuchenbäcker zu Reudnitz, vom Januar 2017
Verbindungsbahn a. D. – Ade! vom Mai 2021
Quellen
Quelle #1: Wikipedia, Liste der Kulturdenkmale in Neustadt-Neuschönefeld, Husemannstraße 3, online erreichbar
Quelle #2: Stadt Leipzig, Verzeichnis Leipziger Straßennamen mit Erläuterungen, Dez. 2018, online erreichbar
Quelle #3: Stadtarchiv Leipzig, Kapitel-Akten
– Kap 24, No. 1, Beiheft 2 zu Straßenbenennungen in (Leipzig-) Reudnitz, auf den Blättern 83-86 zur Marschallstraße sowie
– Kap 24, No. 283 Acten der Gemeinde-Verwaltung Reudnitz, Ankauf des Herz’schen Grundstückes behufs Anlegung der Marschall-Straße betr., insbesondere Blatt 45
Quelle #4: Stadtarchiv Leipzig, Kapitel-Akten Kap 76, No. 19: Acta, die Erbauung eines Feuerwehrdepots, eines Steigerhauses, Gerätheschuppens etc. betr., Vol I, erg. 1886
Quelle #5: Die Neuorganisation der Leipziger Berufs-Feuerwehr nach den Ratsakten und anderen offiziellen Quellen
Von E. Nowák · 1882, [S. 39] zweicylindrige Dampfspritze der Leipziger Berufsfeuerwehr Jauck in Leipzig, SLUB Dresden, online erreichbar
Quelle #6: Deutsche Bauzeitung, Berlin, 16. März 1889, S. 132 zur Feuerwehr in Reudnitz
Quelle #7: Leibnitz IRS (Erkner) / Wiss.Samml., Signatur IRS_A_05_09_24-03 (Planausschnitt, Projekt Umgestaltungsgebiet Kreuzstraße, Bebauungskonzeption, Bebauungsplan 1. und 2. Baufeld, 1.Änderung, März 1984), online erreichbar
Quelle #8: Gedenkinitiative ,Husemann‘ – Walter und Marta Husemann und die Rote Kapelle, eine Spurensuche, Broschüre online einsehbar
Quelle #9: Namenbuch der Straßen und Plätze Dresdens, Adolf Hantzsch in Mitteilungen des Vereins für Geschichte Dresdens, Band 17/18,1905, online SLUB Dresden, S. 91 Marschallstraße
S. 91: Marschallstraße
persönliche Mitteilungen
Fotos von aud aus der Husemannstraße und deren Umfeld von Frank Heinrich – vielen Dank für die Nutzungsrechte!