der 9. Oktober ’89 in Leipzig

Leipzig, am 9. Oktober ’89

89.10Im Herbst 1989 (vor 25 Jahren) hatte sich die Situation hier in Leipzig in einer bis dahin nicht für möglich gehaltenen Dramatik zugespitzt. Das Geschehen im real erlebten Alltag entfernte sich immer mehr von dem, was die Partei- und Staatsführung der DDR propagierte: die Ulmen im Leipziger Auenwald waren schon lange tot, die Flüsse waren inzwischen Abwässergräben, die Luft war verpestet, die Stadt versank im grauen Staub, die Wohnhäuser verfielen, vom Süden fraßen sich die Bagger in Richtung Stadt und hinterließen Mondlandschaften

Aber, nach dem 40. Jahrestag der DDR, der in Berlin am 7. Oktober mit Pomp und Jubel begangen worden war, deutete alles darauf hin, dass nun auch in der Republik überall „aufgeräumt“ werden sollte, speziell auch mit den Leipziger Bürgerprotesten im Anschluss an die montäglichen Friedensgebete.
Alles das stand am Montag, den 9. Oktober in Leipzig auf des Messers Schneide.

Unser Tag verlief so:


Leipzig, am 9. Oktober
Vormittags im Betrieb, Nachrichtenelektronik (NEL) Werk 1 in L.-Stötteritz
Der Arbeitstag begann an dem Montag wie immer durch Klingelzeichen um 6:25 Uhr. Es kam aber gleich zu einer erregten Diskussion über einen Zeitungsartikel vom vorhergehenden Freitag (6. Oktober).
O_3_6_2_03_orgBIGIn der Leipziger Volkszeitung (LVZ) war eine (angeblich spontane) Leserzuschrift veröffentlicht worden. Dort schrieb ein Kampfgruppen-Kommandeur aus dem Leipziger Baukombinat, dass die konterrevolutionären Aktionen in Leipzig endgültig unterbunden werden müßten
“ Wenn es ein muß, mit der Waffe in der Hand!“
Der Sinn dieser Zeitungsmitteilung war uns sofort klar: dieser Artikel sollte Warnung, Abschreckung und vielleicht auch Rechtfertigung für mögliche kommende Ereignisse sein.
Und wie sah es in unserer Entwicklungstechnologen-Abteilung (TV 1) aus? Im August war unser Abteilungsleiter (Genosse) S. von einem Verwandtenbesuch aus dem Westen nicht zurückgekommen und zwei junge Kollegen, Kollegin G. und Kollege R., waren von einer Reise nach Ungarn nicht zurückgekehrt – aber wir wollten die Probleme hier lösen.

10 Uhr, Anruf vom befreundeten Kollegen K. (34, verheiratet, 3 Kinder) aus dem Werkteil 3 des NEL in L.-Großzschocher
„… meine Frau hat mich aufgeregt angerufen, sie arbeitet im Armeelazarett Wiederitzsch. Dort wurden jetzt auf den Korridoren überall Notbetten aufgestellt. Es sind zusätzliche Blutkonserven eingetroffen“
und
„Unsere Kollegen aus dem Umland haben heute früh erzählt, dass sie bei ihrer Fahrt zur Arbeit an den Zufahrtsstraßen am Stadtrand motorisierte NVA-Kolonnen gesehen haben.“
Im Krankenhaus hat man sich auf die Behandlung von Schlag- und Schussverletzungen vorbereitet.
Zwischendurch knackte es in der Leitung und ich habe, glaube ich, spontan gesagt: „Hallo Kollegen in der Runden Ecke [MfS-Zentrale-Süd am Leipziger Ring], hört gut zu, denn wir bleiben hier!“

11 Uhr, Anruf von meiner Frau (36, wir haben 2 Kinder) Fa. ISOC. vom Akademiegelände an der Permoser Straße in L.-Schönefeld
„… ich muss heute schon 1/2 3 nach Hause fahren, weil die Kinder im Stadtgebiet spätestens bis 15 Uhr aus dem Kindergarten abgeholt werden müssen. Und wir sollen zum Einkaufen keinesfalls in die Innenstadt gehen, dort schließen die Läden bis 16 Uhr und danach könnte nicht für die Sicherheit garantiert werden!“

13 Uhr, außerordentliche Gewerkschaftsversammlung TV1/6 im Betrieb NEL, Werk 1 in L.-Stötteritz
Unser Gewerkschafts-Vertrauensmann Kollege S., (33, verheiratet, 1 Kind) der von einer Vertrauensleute-Anleitung kam: „Die heutige Demonstration wird so enden, dass es keine weitere geben wird“ und „Wer heute verletzt wird, der erhält keine Krankschreibung und muss seine Behandlung selbst bezahlen!“. Natürlich stammt diese bedrohliche Formulierung nicht von ihm selbst, er hat mur die offizielle Aussage vom Betrieb, der Partei- und Gewerkschaftsleitung, verkündet.
Wir waren wohl alle entsetzt, wohin sollte das führen?
Der befreundete Kollege H. (48, verheiratet, eine Tochter) sagte in die Runde „Man müsste streiken!“
Was wird heute Abend hier in der Leipziger Innenstadt nach dem traditionellen Friedensgebet geschehen, nach dem sich bisher für gewöhnlich die Teilnehmer und Demonstranten aus Leipzig und vielen Teilen der DDR spontan auf der Straße formierten?
Alles deutete auf eine gewaltsame Konfrontation mit der Staatsmacht hin.

am Abend, zu Hause mit der Familie in der Neustädter Straße, L.-Neustadt (5 Straßenbahn-Minuten vom Zentrum entfernt)
Wir überlegen, ob man sich das alles länger bieten lassen soll, ob wir in die Stadt gehen sollen – unser familiärer Beschluss: wir haben zwei Kinder und die Wahrscheinlichkeit der Eskalation war vorgezeichnet, wir müssen an unsere Kinder denken und bleiben deshalb zu Hause …

kurz vor 18 Uhr, wir können von unserem Fenster auf der Ernst-Thälmann-Straße sehen, dass der Straßenbahnverkehr  zum Erliegen gekommen ist. Sonst fahren hier die Straßenbahnen im 5-Minutentakt, nun kommen zuerst keine Bahnen mehr aus Richtung Stadt und kurz darauf fahren auch keine mehr in Richtung Innenstadt (Hauptbahnhof und Karl-Marx-Platz). Der Innenstadt-Ring ist abgeriegelt.
Ungewissheit: was ist da los? Sollte es wirklich zum Schlimmsten kommen?
Im Radio bringen sie auch nichts über Leipzig.
Am Fenster kann man zum Glück auch nichts hören – das Schlimmste wären jetzt Schussgeräusche …
Man weiß nichts, hört nichts, sieht nichts – oh mein Gott, wie soll das nur enden?

89.11_17gegen 19 Uhr, im Radio, ich weiß nicht mehr genau, ob im Sender Leipzig oder Radio DDR, hören wir einen Aufruf zur Besonnenheit, gesprochen vom bekannten und auch von uns sehr geschätzten Gewandhaus-Chefdirigenten Kurt Masur „Wir sind von der Entwicklung in unserer Stadt betroffen und suchen eine gemeinsame Lösung“, hieß es darin. Der Abend des 9. Oktober 1989 hatte einen friedlichen Ausgang gefunden – uns beiden standen die Tränen in den Augen.

Später erfuhren wir, dass dieser Aufruf auch über den Leipziger Stadtfunk direkt per Lautsprecher am Innenstadtring an die Demonstranten, Bereitschaftspolizisten und Kampfgruppen-Hundertschaften übertragen wurde.
Es kam nicht zur erwarteten Eskalation, etwa 70.000 Menschen demonstrierten an diesem Abend gewaltfrei über die Leipziger Innenstadtring.

Am 10. und 11. Oktober, äußerten sich auch die DDR-Presseorgane wie die LVZ, das Sächsische Tageblatt oder sogar das FDJ-Blatt Junge Welt erstmalig sachlich zur Leipziger Montagsdemo und zu den Ereignissen am 9. Oktober ’89 in Leipzig. Statt wie bisher über rechtswidrige Zusammenrottungen, Randalierer und Rowdys zu berichten wurden nun erstmals Demonstranten erwähnt. In der Jungen Welt wird sogar vom Friedensgebet in der Nikolaikirche berichtet und der versuchten Kirchenbesetzung durch SED-Genossen, alles in fast erstaunlicher Offenheit.

89.11_19
Fazit:

Heute ist der 3. Oktober der Feiertag der deutschen Einheit und am 9. November wird in Berlin ganz groß der Mauerfall gefeiert. Aber, ohne die gewaltfreie Montags-Demonstration am 9. Oktober wären weder Mauerfall, noch deutsche Einheit und das friedliche Abdanken eines Regimes möglich gewesen.

3 Gedanken zu “der 9. Oktober ’89 in Leipzig

  1. Hat dies auf oderbruchfotograf rebloggt und kommentierte:
    Kaum zu glauben, dass die dramatischen Ereignisse von Leipzig bereits fünfundzwanzig Jahre zurückliegen. Die Geschichte des 09. Oktobers 1989 ist noch lange nicht aufgearbeitet! Dafür sind noch zu viele Fragen offen.
    Vor allem eine: gab es seitens der Verantwortlichen in der SED-Führung aber auch bei den Sicherheitskräften, zumindest als letzte Option, die Schusswaffen anzuwenden?
    Egon Krenz nimmt für sich in Anspruch, bereits am 08. Oktober den Sicherheitsorganen den Befehl gegeben zu haben, “ lediglich zur Selbstverteidigung Gewalt gegen Demonstranten anzuwenden“.
    Die Anwendung der Schusswaffe sei ausdrücklich verboten gewesen.
    Wirklich? Zweifel dürfen an dieser Stelle wohl erlaubt sein.

    Viele Grüße aus dem Oderbruch
    Uwe Bräuning

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    • … heute gibt es einen Trend zur Verdrängung dieser Zeit und häufig wird verbreitet, dass die Leute damals nur wegen der Reisefreiheit und den Bananen auf die Straße gegangen sind (Beispiel Otto Schily). Über den allseitigen Nedergang der DDR (Industrie, Umwelt, schlechte Wohnverhältnisse, Rechtsbeugungen) wird kaum noch geredet – Schade.

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      • 25 Jahre sind eine lange Zeit. Da gerät einiges in Vergessenheit, anderes wird verklärt, oder in einem milderen Licht gesehen. Man sagt zwar das sich Geschichte nicht wiederholt, aber diesbezüglich ähneln sich die Wahrnehmungen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Untergang der DDR, doch auffallend.
        Eine mögliche Ursache sehe ich darin, dass sehr viele Menschen heute mit völlig anderen, in der DDR so nicht gekannten Problemen konfrontiert werden. Zum Beispiel das leidige Thema Arbeitslosigkeit. Die Sorgen und Nöte der Gegenwart versperren zuweilen den Blick auf die Vergangenheit.

        Gruß Uwe Bräuning

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