Marie & Bruno in Gohlis (1896-1903)

Stadtplan.1903_Gohlis-02m… Umzug in die Gohliser Schachtstraße  1 und 4

Nachdem sich, wie berichtet, bei meinen Urgroßeltern Marie und Bruno Stein wieder Nachwuchs angekündigt hatte, sind sie im Frühjahr 1896 von der damaligen Blumenstraße in die nahegelegene Schachtsche Straße Nr. 1 (ab 1897 Schachtstraße) und ein Jahr später in die Nr. 4 umgezogen. Der Straßenname wies übrigens nicht auf bergbauliche Aktivitäten hin; der sozial engagierte Leipziger Kaufmann Georg Schacht hatte bei seinem Tod im Jahr 1858 verfügt, dass aus seinem Nachlass eine Stiftung für bedürftige Gohliser Bürger finanziert wurde.


Am 19. Juni 1896 wurde in der Schachtschen Straße Nr. 1 als 5. Kind von Marie (29) und Bruno (30) Stein ihr Sohn Johannes Erich Stein geboren. Die Wohnung war relativ klein und die Miete mit 300 Mark im Jahr hoch. Hier wohnten sie in der 3. Etage. Margarethe schrieb später darüber:
,,Ach wir armen Kinder wußten hier nicht, wo wir spielen sollten. Ich war ungefähr 4 Jahre alt, Walter 3. Im Hof durften wir uns nicht aufhalten, auf die Straße schickte uns Mutter nicht gern.
Da besinne ich mich auf eine Episode. Weihnachten 1896. … Am 1. Feiertag wurde Hänschen gebadet. Früher war es üblich, daß der Tisch unmittelbar am Sofa stand. Wir standen also auf dem Sofa am Tisch, Gerhard, Walter und ich, um beim Wickeln des Kleinen zuzusehen. Mutter mußte sich beeilen, um nebenbei das Mittagsbrot für Vater zurecht zu machen. Er hatte Dienst. Gerhard (8) sollte es ihm bringen. Der arme Junge hatte einen weiten Weg bis zum York-Platz [heute: Erich-Weinert-Platz].“ ,,Gerhard hatte auch einen weiten Weg zur vereinigten Freischule, Zöllnerstraße [heute: Emil-Fuchs-Straße], mitten in der Stadt. Sie stand im Range einer Bürgerschule und kostete kein Schulgeld. Sie wurde meistens von Beamtenkindern besucht. Das war mindestens 3/4 Stunde Weg von der Schachtstraße aus.“
LAB_1896,,Ja, in diesem Hause hatten wir eine Wirtin, die uns das Leben zur Hölle machte. Frau Sperling hieß sie. Wir Kinder trauten uns kaum heraus. So stellte ich mir die Hexe von Hänsel und Gretel vor. Wo sie uns erwischen konnte, hatte sie etwas zu meckern. Wir hatten einen Heidenrespekt vor ihr. An einem Sonntag ging ich mit Walther nach unten, schön angezogen, jeder mit seiner Spitzenkrause. Als wir hinausgingen hatte wohl ein Luftzug die Haustür zugeplatzt, sodaß eine Scheibe herausfiel. Wir liefen davon, was wir laufen konnten, sodaß wir Gott Lob nicht in falschen Verdacht kamen, jedenfalls wurden wir diesmal verschont.“
,,Vater war ein großer Freund von Musik und Gesang. Er spielte auch Ziehharmonika. An einem Winterabend, es war schon dämmrig – da schien der zunehmende Mond zu uns herein. „Ach der Mond ist kaputt“ rief ich aus. „Ja“, sagte Vater, „den wollte Frau Sperling putzen und da bei hat sie ihn zerbrochen.“ Das hat mich sehr beeindruckt. Darauf lernte mir Vater mein erstes Lied: „Weißt Du wieviel Sternlein stehen.“ Er putzte dabei die blanken Knöpfe seiner Uniform. Es war für mich recht feierlich.“

In den schriftlich überlieferten Kindheitserinnerungen von Margarethe Stein wird von der ersten pferdelosen (elektrischen) Straßenbahn in Leipzig berichtet, deren Erstfahrt man vom Fenster dieser Wohnung aus beobachten konnte.
Dazu zwei Anmerkungen von mir:
1. in Leipzig gab es damals zwei konkurrierende Straßenbahn-Unternehmen, die verbissen um die Fahrgäste kämpften. Nach der Wagenfarbgebung wurden sie im Volksmund die „Rote“ und die „Blaue“ genannt (siehe Scherzpostkarte).Straßenbahn_01
2. am 17. April 1896 fuhr in Leipzig die erste elektrische Straßenbahn vom Vorort Connewitz, im Süden der Stadt, nach Gohlis. Die neue elektrische Strecke führte direkt am Haus an der Äußeren Hallischen Straße vorbei. Die „Blaue“ Linie nach Gohlis beförderte damals täglich etwa 15.000 Fahrgäste, der Fahrschein kostete 10 Pfennige.

Schachtstraße 1:

Schacht1_91-02 Schacht1_15-04

Die beiden Fotos zeigen das um 1890 (95?), in geschlossener Bebauung mit Vorgarten und Klinkerfassade, errichtete Mietshaus in der Schachtstraße. Familie Stein wohnte in der III. Etage. Das links anschließende große Eckhaus gehört heute zur Georg-Schumann-Straße 110.
links: Aufnahme aus dem Jahr 1991, sanierungsbedürftig.
rechts: Aufnahme 2015 – jetzt sehen das Haus und die benachbarten Gebäude wieder blendend aus. Es hat wieder eine schöne Fassade, Dach und Vorgärten (allerdings ohne Bäumchen am Fußweg). Das Haus hat heute Zentralheizung (Erdgas).

——

LAB_1899.Schacht4Im Jahr 1897 zog die Familie Stein in den gerade gegenüber in der Schachtstraße entstandenen Neubau Schachtstraße Nr. 4 in die II. Etage. Margarethe schrieb darüber:
,,Das Treppengeländer waren zwar noch nicht angebracht, aber wir hatten jetzt eine schöne große Wohnung. Das schönste war ein großer Hof, wo wir nach Herzenslust spielen durften. Er wurde zum Teil in Gärten eingeteilt, wovon wir auch einen bekamen.“
Statt bisher eine große und eine kleine Stube sowie Kammer und Küche hatte man nun zwei große Stuben und zwei Schlafzimmer sowie Küche für vorzugsweise 400 Mark Jahresmiete (zum Trockenwohnen). Das war teuer. Da mußte sicher mit jedem Groschen sparsam umgegangen werden, auch bei Butter und Brotbelag. Margarine auf dem Brot galt damals geradezu als Armutszeugnis. Welch ein Vorkommnis, als der kleine Walter im Treppenhaus seiner Mutter nachrief: „Mama, die Margarine ist auch alle!“
Zu Weihnachten 1897 erkrankte Johannes und seine Mutter an Diphtherie. Johannes wurde ins Kinderkrankenhaus in der Oststraße eingeliefert und starb dort 1 1/2 -jährig am Januar 1898.
Am 29. Mai 1899 wurde in der Schachtstraße 4 das 6. Kind meiner Urgroßeltern Marie und Bruno Stein, ihr Sohn Georg Rudolf Stein geboren.
Bruno Stein wurde nach langjährigem Streifendienst im Jahr 1899 zur Politischen Polizei (PoPo) übernommen, kam ein Jahr später ins Einwohnermeldeamt. Die Verwaltung wuchs damals unaufhörlich mit der Stadt. Waren es im Jahr 1890 in Leipzig noch rund 360 Tausend (registrierte) Einwohner, so überstiegen 1905 die Einwohnerzahlen erstmals die Halbmillionengrenze.
Hier die Stein’sche Familie im Überblick (1899): Vater Bruno (34), Mutter Marie (33), Gerhard (11), Margarethe (7), Walther (4), Rudolf gerade geboren, Helmut und Johannes verstorben.

Schachtstraße 4:

Schacht4_91 Schacht4_15-01

Die beiden Fotos zeigen das um 1895/96, in geschlossener Bebauung mit Vorgarten errichtete Mietshaus in der Schachtstraße. Familie Stein wohnte in der II. Etage.
links: Aufnahme aus dem Jahr 1991, mit geglätteter Fassade
rechts: Aufnahme 2015 – jetzt ist die (historische?) Stuckstruktur der Fassade wieder erkennbar: Fenster, Fassade, Vorgärten und ein ,,gepflegter grüner Innenhof“ sind vorzeigbar. Das Haus hat heute Zentralheizung (Erdgas).

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