Marie und Bruno ziehen nach Leipzig

M+BS_09d… in eine große Wohnung

Endlich, 19 Jahre nach ihrer ersten Wohnung 1890 in Leipzig-Anger-Crottendorf, hatten Marie und Bruno Stein im Oktober des Jahres 1909 eine richtige große 5-Zimmer-Wohnung für die Familie mit fünf Kindern gefunden. Entgegen dem Spruch: ,,wem’s zu wohl ist der zieht nach Gohlis“ zog die Familie Stein nach sechs Wohnversuchen in Gohlis schließlich nach Leipzig in die Blumenstraße 20. Die Freude war groß – endlich eine richtige Wohnung.

Wir können die Freude meiner Urgroßeltern gut nachvollziehen, weil wir auch erst 17 Jahre nach unserer ersten Wohn-Behausung in Neuschönefeld endlich eine schöne große Wohnung erkämpfen konnten.
Die Wohnung in der Blumenstraße 20 befand sich in einem bürgerlichen Mietshaus in der vierten Etage (links). Dieses Haus lag relativ zentrumsnah im Leipziger Nordwesten, aber nicht in Gohlis, sondern in [damals] Alt-Leipzig.
Auf dem Stadtplan-Ausschnitt (links) kann man gut erkennen, dass der Anfang der Blumenstraße mit der Nr. 20 auf der geraden Hausnummern-Seite verwaltungstechnisch zu Leipzig gehörte, ab Nr. 24 zu Eutritzsch und ab Nr. 40 zu Gohlis.

Plan_1908_Detail Fotos_GT-10

Damals war die Haus-Photographie groß in Mode gekommen: ein mobiler Photograph mit Plattenkamera und Stativ kündigte sich an, photographierte der Reihe nach alle Häuser in der Straße und man konnte hinterher eine Postkarten-Photographie erwerben. Da drängelten sich oft alle Hausbewohner an den Fenstern, damit man mit dem Versenden der Postkarten demonstrieren konnte wie vornehm man wohnte. Im Jahr 1910 kam ein Photograph auch zum Haus in der Blumenstraße 20, aber wie man auf dem rechten Bild sieht, in der vierten Etage oben rechts, waren die Jalousien herunter gelassen – kein Bild gewünscht!

Ein Blick ins Leipziger Adressbuch des Jahres 1909 zeigt, dass neben dem Meldebeamten (Vater) Bruno auch schon der Sohn Gerhard (mein Großvater) als Bautechniker eingetragen war. Im Haus wohnten demnach auch ein Bankbeamter, vier Lehrer, ein Eisenbahn-Betriebsingenieur, ein Notendrucker und noch ein Schutzmann. Ein interessanter Bevölkerungsanteil der Leipziger Mittelschicht.

LAB.1909.Blume20 Fam.Stein_1909

Im Jahr 1909 gab es auch wieder einen Gang in eine photographische Anstalt zu einer Familien-Photographie. Auf dem Bild die stolze Familie von links nach rechts: Margarethe (17), Mutter Marie (43), Walther (16), Herta (4), Gerhard (21), Vater Bruno (44) und Rudolf (13).
Schön, dass es solche Bilder heute noch gibt.

Tochter Margarethe schrieb über diese Jahre:
Vater hatte indessen beschlossen eine andere Wohnung zu mieten, da es doch recht eng bei uns zuging. Walther war zwar auf dem Seminar in Grimma, doch wir waren immerhin noch 4 Kinder daheim, Gerhard besuchte noch die Bauschule. Eines Tages kam Vater heim und sagte: „Ich habe eine Wohnung angesehen, da sind die Zimmer so groß, wenn man an der Tür steht, kann man nicht erkennen, wer am Fenster steht.“ Das war ja nun reichlich übertrieben, aber die Zimmer waren wirklich sehr groß im Vergleich zu unserer Enge.
Fam.Stein_Margarete1909So zogen wir im Oktober 1909 nach der Blumenstraße 20, in dasselbe Haus, wo ich mit Schneidern beschäftigt war. Wir hatten eine herrliche Wohnung, zwar im 4. Stock, aber 5 Zimmer und Küche mit Bad. Das war ein Aufatmen für uns alle. Gerhard und ich hatten nun ein eigenes Zimmer. Wir kamen uns vor wie die Fürsten. Eine gute Stube hatten wir natürlich auch, ohne die es nicht ging. Aber das Wohnzimmer war viel gemütlicher. Da stand auch das Klavier.
Wenn dann Walther heim kam während der Ferien, dann war Leben im Hause. Schon am Morgen saß er am Klavier und begrüßte den jungen Tag mit einem Choral. Ich war zwar nicht viel wert in meiner Kunst, doch oft haben wir vier-händig gespielt oder er begleitete mich mit seiner Geige. Stimmte ich ein Lied an, dann setzte er sich sofort ans Klavier und begleitete mich, war das ein herrliches Verstehen, armer Walther, mir wendet es heute noch das Herz um, daß Du Dein Leben so früh hingeben mußtest.

Fam.Stein_Rudolf1909und ihr Bruder Rudolf schreibt später in seiner Biografie:
Mein älterer Bruder Gerhard hatte Maurer gelernt, die Bauschule absolviert und dann die Baumeisterprüfung abgelegt. Mir hatte gefallen, was er daheim an Zeichnungen verfertigte, so daß auch ich Lust bekam, diesen Beruf zu ergreifen. … Ich also begann nach dem Abschluß der Volksschule, zu Ostern 1913, das Maurerhandwerk zu erlernen. In den beiden folgenden Winterhalbjahren besuchte ich die Städtische Gewerbeschule in Leipzig, weil für das Studium an der Staatsbauschule die Vollendung des 16. Lebensjahres erforderlich war. So lange war ich auch noch ein recht wilder Junge. Das änderte sich erst, als ich 1915 das erste Semester der Bauschule beginnen konnte.

Der erwähnte Bruder Walther war im Juli 1918, kurz vor Kriegsende, als vermisst gemeldet worden. Wie so viele junge Menschen war er wahrscheinlich von einem Granateneinschlag bis zur Unkenntlichkeit zerrissen worden, ein furchtbares und trauriges Schicksal.
Im Familienstammbuch befindet sich dazu folgender Eintrag, ganz rechts:
FamStb_Ernst.Moritz.Walther.Stein
,,Ernst Moritz Walther Stein: Am 21.7.1918 bei La Plassier-Huleu, in Frankreich vermißt und deshalb am 4.6.23 vom Amtsgericht Leipzig für tot erklärt.“
Wir sind froh, dass wir, unsere Kinder und Enkel keinen Krieg erleben mussten.

In diesem Haus in der Blumenstraße 20 haben meine Urgroßeltern 27 Jahre bis zum Jahr 1936 gewohnt, dann sind sie nach Saalfeld umgezogen.

Was ist aus diesem Haus geworden?

Eine kleine Gegenüberstellung. Da kann man sehen, was nach der ,,Wende“ innerhalb 24 Jahren aus dem Haus geworden ist – erstaunliches!
Bild links: Im November 1991 bin ich in der Blumenstraße gewesen und habe das Haus Nr. 20 fotografiert. Es ist zwar äußerlich nicht ganz top, der Stuck ist verschwunden, aber sonst ist es noch bis in die oberen Etagen bewohnt und weitestgehend in Ordnung gewesen.

M+BS_09q fotosafari-31

Bild rechts: Das Bild habe ich im November 2015 in der Blumenstraße aufgenommen. Es wurde grundlegend saniert und ein Teil des ursprünglichen Fassadenschmucks wurde wieder angebracht. Das Haus steht heute sogar in der Liste der sächsischen Kulturdenkmale:
Blumenstraße 20, 1894 Mietshaus in geschlossener Bebauung (Putzfassade) Objekt-ID des Kulturdenkmals 09299439.

Kürzlich wurde in der Blumenstraße 20 eine Appartment-Wohnung in ,,traumhafer zentrumsnaher Lage“ für etwa 90.000 Euro angeboten.
Lagebeschreibung: Die 3-Raum-Wohnung liegt in gefragter Leipziger Wohnlage (Zentrum Nord) in einer ruhigen Seitenstraße.Das Mehrfamilienhaus, in dem sich die verkaufsgegenständliche Wohnung befindet ist eines der schönsten in der ganzen Häuserzeile und besticht mit Stuck-, Holz- und können Ihren Blick über das gutbürgerliche Gohlis schweifen lassen und genießen den entspannten Charakter dieses können Sie den Herzschlag der Messemetropole förmlich spüren, die sächsische Lebensart erfahren, Kultur, Musik und Natur pur genießen. … Durchdachte 3-Raum-Wohnung im 4.OG.

Fazit: wem’s zu wohl ist, der wohnt heute in Leipziger City-Nähe … nicht nur in Gohlis!

Hinterlasse einen Kommentar

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..