Vor dreißig Jahren – im Jahr 1988 – fand in Leipzig-Neustadt die erste und bisher einzigste Geschichtskonferenz zum Wohngebiet statt.
Wie es dazu kam, welche Quellen damals möglich und nutzbar waren, wer mich damals unterstützt hatte, was da am Rande so abgelaufen ist und welche ungeahnten Folgen das Ganze hatte, davon möchte ich im Folgenden berichten.
Zum Thema Stadtgeschichte habe ich mal in meinen alten Hermes-Taschenkalendern geblättert und ein paar interessante Eintragungen entdeckt, die ich hier kurz erläutern möchte.
13. August 1987,
Donnerstag: 18:30 Uhr zu E. Wohlrath
Nach dem erfolgreich absolvierten Projekt „Wohnungsausbau in der Neustädter 18″ in den Jahren 1985/86 hatte ich wieder etwas mehr an Zeit mich mit stadtgeschichtlichen Themen unseres Wohnumfeldes zu beschäftigen. [LQ #1]
Große Frage: wie könnte man an realistische historische Informationen, Zusammenhänge und Quellen der Neustädter und Neuschönefelder Gegend herankommen?
In der offiziellen Stadtgeschichtsschreibung gab es meist nur pauschale Darstellungen von Leipzigs ,,Roten Osten“. Die Episoden handelten zu über 90 % im östlich von Neustadt/ Neuschönefeld gelegenen Stadtteil Volkmarsdorf und dort speziell von ausgewählten Aktivitäten der KPD in der Weimarer Republik und während der Nazizeit. [LQ #2 und #3]
Über unser Wohngebiet stand nur selten was in der Zeitung, meistens nur unter der Rubrik: ,,Die Volkspolizei berichtet…“ 😉 😉
Am 5. August 1987 war in unserer damaligen Tageszeitung, dem ,,Sächsischen Tageblatt„, war ein kleiner Artikel unter dem Titel ,,Der Heimatforscher Ernst Wohlrath wurde 75 Jahre“ erschienen. Darin wurde in Wort und Bild (Bild rechts) über den ,,… allseits geschätzten Heimatforscher Ernst Wohlrath aus der Schönefelder Emil-Schubert-Straße 26„, seinen 75. Geburtstag und seine ,,Dienste der Aufbewahrung und Aufbereitung der Vergangenheit Leipzigs“ und speziell der Schönefelder Wohngebiete berichtet. Daraufhin habe ich ihn einfach per Postkarte angeschrieben und er hatte mich kurzerhand in der Folgewoche zu sich nach Schönefeld eingeladen. Das war für mich ein Glücksgriff gewesen – von ihm habe ich damals erste Informationen über die Entstehung und die Geschichte der Neuschönefelder und Neustädter Gegend als frühere südliche Gebiete von Schönefeld erhalten. Entscheidend war, dass er mir viel über das Thema ,,Quellen-Recherche“ zu DDR-Zeiten vermitteln konnte. Auch, unter welchen Bedingungen und mit welchen Kniffen Recherchen in den Leipziger Archiven (Stadtarchiv, Bibliothek des Museums für Geschichte der Stadt Leipzig und der Deutschen Bücherei) sinnvoll und möglich waren. Von ihm habe ich damals eine Menge Literaturhinweise und Schreibmaschinen-Durchschläge erhalten. [LQ #4, #5 und #6]
In der Folgezeit haben wir oft und freundschaftlich zusammengearbeitet, leider nur kurze Zeit – Ernst Wohlrath verstarb am 18. Mai 1991.
1. März 1988,
Dienstag: 19 Uhr NF, über eine Geschichtskonferenz
Die Silvesterfeier 1987/88 haben wir gemeinsam mit den Familien von Jürgen und Susanne U. und Thomas und Annelie B. bei uns in der Wohnung gefeiert. Dabei habe ich nebenbei auch von Ernst Wohlrath und neuen Erkenntnissen zu alten Häusern und alten Geschichten in unserem Wohngebiet erzählt. Das hat besonders Jürgen und Thomas interessiert, die mit mir gemeinsam im WBA 102 (WBA: Wohnbezirksausschuss, heute etwa als Bürgervertretung bezeichnet) aktiv waren. Jürgen wollte sich Anfang des Jahres mal bei der ,,Stadt“ erkundigen, ob und wie man daraus eine öffentlichkeitswirksame Veranstaltung machen könnte und vielleicht sogar ein Heft über die Wohngebietsgeschichte herausbringen könnte. In Eigeninitiative war sowas zu DDR-Zeiten kaum möglich, also haben wir versucht, das Wohngebiets-Geschichtsvorhaben über die gesellschaftliche Dachorganisation der Nationalen Front der DDR (NF) zu organisieren.
Dazu erhielten wir drei eine Einladung zu oben genanntem Termin zur Nationalen Front in die Springerstraße 8 und haben dort unser Vorhaben vorgestellt. Es wurde insgesamt, trotz fehlender gesellschaftspolitischer Zielstellung, positiv aufgenommen und man versprach, uns bei einer ,,Geschichtskonferenz“ zu unterstützen. Infolge habe ich, unterstützt durch Herrn Wohlrath aus Schönefeld, viel zur Orts-, Kirchen- und Schulgeschichte in der Bibliothek des Stadtgeschichtlichen Museums (damals noch in Räumen an der Nordseite des Alten Rathauses), im Stadtarchiv (oben im Neuen Rathaus) und der Deutschen Bücherein recherchiert und aufgeschrieben. Daraus sind dann die ersten Beiträge zur Neustädter Regionalgeschichte entstanden.
8. Juni 1988,
Mittwoch: 14:30 Uhr WiWa, Zi. 32, Schulgeschichte
Unser Sohn Oliver war im Schuljahr 1987/88 Schüler der 6. Klasse der Wilhelm-Wander-Oberschule in der Neustädter Schulze-Delitzsch-Straße. Als Mitglied der damaligen Elternvertretung hatte ich im Frühjahr auch das Thema der Schulgeschichte mit angeschnitten. Eigentlich hatte ich gehofft, dass ich einen Einblick in die Schulchronik nehmen und dadurch meine Recherchen vervollständigen könnte. Weit gefehlt – es gab damals gar keine Schulchronik, die einen geschichtlichen Rückblick ermöglicht hätte (!). Über Herrn Wohlrath hatte ich wie berichtet schon einen ersten historischen Schulrückblick erhalten [LQ #5] und nach einer Recherche im Stadtarchiv konnte ich der WiWa-Schule angebieten, dass ich für Schüler der 6. Klasse fakultativ gern mal etwas über Wohngebiets- und Schulgeschichte berichten und zeigen würde. Noch vor den Sommerferien fand am 8. Juni eine erste 45minütige ,,hautnahe“ Zusatz-Geschichtsstunde der etwas anderen Art vor etwa 15 interessierten Schülern statt.
Das hat den Kindern gefallen und mir Spaß gemacht.
11. Oktober 1988,
Dienstag: 19 Uhr, Kreuzkirche
Über die Geschichte der Heilig-Kreuz-Kirche und eventuell noch vorliegenden alten Bildern und Unterlagen habe ich Anfang September 1988 den damaligen Pfarrer Erler angesprochen. Ja, da gab es tatsächlich noch ein paar alte Fotos vom Kirchenbau aus dem Jahr 1894, von den ersten Pfarrern und eine Festschrift vom 25 jährigen Bestehen der Kreuzgemeinde aus dem Jahr 1919. Wir haben uns etwas über die Wohngebiets-Geschichte im Allgemeinen und die Kirchengeschichte im Besonderen mit zunehmender Begeisterung unterhalten. Wir beide haben spontan beschlossen, dass an einem Gemeindeabend im Oktober ein kleiner geschichtlicher Exkurs zur Kreuzkirche stattfinden sollte. Dieser Abend fand dann am 11. Oktober vor etwa 25 Gemeindemitgliedern aller Altersstufen statt, die gern etwas über Kirchen- und Wohngebiets-Geschichte hören wollten. Mir ist nur noch in Erinnerung geblieben, dass Pfarrer Erler nach dem Schlussapplaus etwas verlegen aufgestanden war und sagte, dass er mir für die sehr anregende und interessante Stunde kein Honorar zahlen könnte, aber mir und meiner Familie dafür vom letzten Besuch der Patengemeinde [aus Westdeutschland] gerne eine kleine Naturalientüte überreichen würde. Diese vitaminreiche Tüte mit leckeren Apfelsinen habe ich natürlich gern mit nach Hause genommen. Damals waren das noch hochgeschätzte, begehrte und rare Artikel …
25. November 1988,
Freitag: 19 Uhr Geschichtskonferenz
Inzwischen hatte sich neben der Schule und der Kirche auch die Nationale Front wieder gemeldet: unsere Geschichtskonferenz durfte unter der Schirmherrschaft der Nationalen Front stattfinden. Das hatte den Vorteil, dass verschiedene Abgeordnete, Vertreter der Stadtpolitik und Fachleute für Regionalgeschichte zentral als Teilnehmer unserer Geschichtskonferenz eingeladen wurden. Auch dem Erscheinen eines ersten Wohngebiets-Geschichtsheftes (Bild unten links) stand nichts mehr im Weg. [LQ #7]
Außerdem erhielt ich Ende August 1988 überraschend einen Brief der Nationalen Front, Bezirksausschuss Leipzig, in dem ich als Teilnehmer an einem Freundschaftszug in die Sowjetunion vom 2.11. – 10.11. 1988 als Auszeichnung für meine stadtgeschichtlichen Erkundungen vorgeschlagen wurde. Diese Reise ins damalige Russland Gorbatschows war schon eine ganz besondere Sache, über die ich vielleicht in einem anderen Beitrag berichten werde.
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Am 25. November hat die Geschichtskonferenz schließlich stattgefunden. Die Hefte zur Wohngebiets-Geschichte waren rechtzeitig fertig geworden und neben den bereits erwähnten ,,Offiziellen“ konnten wir, zu meiner besonderen Freude, auch Ernst Wohlrath aus Schönefeld unter den Teilnehmern mit begrüßen. Aber, das ist ja auch dem von Thomas B. verfassten und in der Leipziger Volkszeitung (LVZ) am 29. November erschienenen Artikel zu entnehmen.
Nachwort
Für das Jahr 1989 hatten wir vom WBA102 mit Redaktionsschluss am 31. Mai das 2. Heft ,,Zur Geschichte der Wohngebiete Leipzig Neustadt und Leipzig-Neuschönefeld“ fertiggestellt, es konnte aber bedingt durch die Wende erst im Jahr 1990 erscheinen. Ab September 1991 erschien im Auftrag des neuen Bürgervereins ,,Neustädter Markt e.V.“ ein erstes Heft des Neustädter Markt Journals und ab dem Heft 5 gab es auch von mir Beiträge unter dem Titel ,,Historisches“.
Literatur und Quellen:
LQ #1 Seit dem Jahr 1975 hatten meine Frau, die Kinder und ich in verschiedenen sehr alten Häusern in den Wohngebieten von Leipzig-Neuschönefeld und Leipzig-Neustadt gewohnt. Das war nicht immer eine idyllische Angelegenheit, der Wohnkomfort war nahezu ,,unterirdisch“. Wer da mal eintauchen will, der kann darüber im Beitrag zum Geschichtenschreiber (aus dem Jahr 1993) nachlesen.
LQ #2 Horst Riedel: Der ,Rote Osten‘ Leipzigs, Haus der Jungen Pioniere ,,Georg Schwarz“ Leipzig, Bereich Traditionsarbeit, Druckvermerk LpG 909/22/87 – 200 x
LQ #3 Der ,,Rote Osten“ Leipzigs, Herausgeber: Geschichtskommission der SED-Stadtbezirksleitung Leipzig-Nordost; Druckvermerk LpG 690/081/88
LQ #4 Ernst Wohlrath: Schönefeld in der Völkerschlacht bei Leipzig im Jahre 1813, Notizen und Berichte mit Schreibmaschine, erschienen 1983
LQ #5 Walter Löscher (Lehrer an der Wilhelm-Wander-Schule in Leipzig-Neustadt): Ortsgeschichte Leipzig-Neustadt, Schreibmaschinen-Durchschlag, Juli 1956
LQ #6 Auszüge aus dem ,,Gemeinderathsprotokollbuch Schönefeld“ über den Neuen Anbau (später Neustadt), Auszüge aus dem Flurbuch des Ritterguts Schönefeld und viele weitere Kopien und Mitschriften
LQ #7 Zur Geschichte des Wohngebietes Leipzig-Neustadt, mit einer Auflage von 1000 St., Satz und Druck: Messedruck Leipzig, Genehmigungsnummer III-18-127 und Druckvermerk L83/88 (Heft 1) und L 41/90 (Heft 2)