Der ,,Volksbasder“ von Volkmarsdorf

Bei Blättern in einem kleinen Buch, das im Jahr 1906 in Leipzig erschienen war, habe ich letztlich eine überraschende Textstelle entdeckt.
Unter den bedeutendsten Leipziger Leuten dieser Zeit wurde auch ein Pfarrer aus dem Leipziger Osten erwähnt:
Wilhelm Sparwald Volkmarsdorf, Idastraße 12, Pfarrer.
Genannt ,,Der Volksbasder“, Hörenswürdigkeit Leipzigs. [Quelle #1]

Wer war dieser hörenswürdige Pfarrer?
[Anmerkung: Basder = sächs. Pastor]

In seinem Buch ,,Um die Jahrhundertwende“ hat Arthur Heimburger das Milieu um den Markt von Volkmarsdorf wie folgt beschrieben:

Pastor Sparwaldt … amtierte in der Kirche am (Volkmarsdorfer) Markt. Das Viertel ringsum war wohl das ärmste in Volkmarsdorf. Hier war Pastor Sparwaldt wegen seiner volkstümlichen Art beliebt.
Pastor Sparwaldt wohnte in der Idastraße in einem altersschwachen kleinen Häuschen. [Quelle #2]

Der Pfarrer wohnte unweit der Kirche in der Idastraße 12, siehe rot gekennzeichnetes Grundstück auf dem Stadtplan-Ausschnitt. Das kleine dreigeschossige Haus war mit knapp 8 Metern sehr schmal gebaut – so wie viele der meisten kleinen und bescheidenen Häuschen der Umgebung.

Aber ich möchte hier nicht vorgreifen, deshalb zuerst etwas zur neuen Lucas- / Lukas-Kirche und ein paar Anmerkungen zu den ersten Pfarrern in Leipzig-Volkmarsdorf.

1. neue Kirche, neue Pfarrer

Ursprünglich gehörten fast alle östlich von Leipzig befindlichen Dörfer / Gemeinden zur Parochie (Kirchspiel) von Schönefeld: Abtnaundorf, Anger, Crottendorf, Neuschönefeld, Neusellerhausen, Neustadt b. Leipzig, Sellerhausen, Stünz, Volkmarsdorf und die Volkmarsdorfer Straßenhäuser.
Im Zuge der Eingemeindung von Volkmarsdorf zur Stadt Leipzig am 1. Januar 1890 wurde am 1. Mai 1891 auch eine eigenständige evangelisch-lutherische Kirchgemeinde in Volkmarsdorf gegründet und der Bau einer geräumigen Kirche beschlossen. Als erster Pfarrer der neuen Kirchgemeinde wurde Friedrich Gustav Paul Weicksel berufen, der seit dem Jahr 1884 als Diakon in der Schönefelder Gemeinde tätig war.

Mit den Bauplanungen zur Kirche wurde der Leipziger Architekt Julius Zeißig beauftragt. Am 9. August 1891 erfolgte bereits die Grundsteinlegung zum Kirchengebäude auf dem zentral gelegenen Marktplatz von Volkmarsdorf südlich der Eisenbahnstraße. Die äußere Form und die innere Gestaltung der Kirche sind vom ausgehenden Historismus geprägt. Das offene, hallenartige Kirchenschiff ist insgesamt 46 Meter lang, die maximale Schiffbreite beträgt 21 Meter. Es wird auf beiden Seiten durch fünf große Fenster erhellt und öffnet sich dem dreiseitig geschlossenen, schlichten Chorraum.

Im Norden steht der 71 Meter hohe, von einem Spitzhelm bekrönte Turm, ein weithin sichtbares Wahrzeichen des Stadtteils.
Die ehemals prächtige und aufwändige Innengestaltung lässt sich heute allerdings kaum noch erahnen. Ursache hierfür sind zum einen die Luftangriffe auf Leipzig gegen Ende des Zweiten Weltkrieges (insbesondere am 6. April 1945), bei denen der Turm beschädigt, ein Drittel der Kirchenfenster zerschlagen und eine Tür schwer getroffen wurden. Zum anderen blieb auch durch die Umbauten nur wenig von der originalen Ausstattung erhalten.

Am 19. März 1893 (Judika) wurde die nach dem Evangelisten Lukas benannte Kirche mit einem Festgottesdienst feierlich eingeweiht. Zu diesem Zeitpunkt zählte die Gemeinde etwa 18.000 Mitglieder. [Quelle #3]

Pfarrer Weicksel wechselte im Herbst 1895 spontan zur Kirchgemeinde nach Podelwitz im Norden von Leipzig, vermutlich ist er mit der großen Gemeinde im Volkmarsdorfer Arbeiterwohngebiet etwas überfordert gewesen … Jedenfalls dauerte es daraufhin fast ein halbes Jahr, bis ein erfahrener Nachfolger, Pfarrer Sparwald von der Kirche St. Thekla im Nordosten von Leipzig, als neuer Seelsorger gefunden wurde. Er wurde am 19. April 1896 in sein Amt an der Lukaskirche in Volkmarsdorf eingewiesen. [Quelle #4]

Das läßt sich auch im Sächsischen Pfarrerbuch aus dem Jahr 1939 nachschlagen, dort ist Pfarrer Sparwald, mit vollem Namen Friedrich Wilhelm Sparwald, als zweiter Pfarrer der Lukaskirche von Leipzig-Volkmarsdorf in der Zeit von 1896 bis 1906 vermerkt. [Quelle #5]

Was läßt sich zur Werdegang des Pfarrers Sparwald in historischen Quellen finden?

2. vom ,,Hülfslehrer“ zum ,,Volksbasder“

  • Friedrich Wilhelm Sparwald wurde am 11.06.1841 in Kreudnitz bei Rötha geboren
    Offenbar findet er gefallen am Lehrerberuf und beginnt mit 16 Jahren eine solide Lehrerausbildung:
  • 1857 – 61 besuchte er das Königlich Sächsische Schullehrer-Seminar in Grimmaer Absolventenverzeichnis des Schullehrer-Seminars, dem Seminar-Grimmenser, ist auf Seite 26 unter dem Punkt XXI. Reception Ostern 1857 beim Eintrag Nr. 402   vermerkt:
    Sparwald, Friedrich Wilhelm Abgangszeit 1861 zu Ostern
    61 Hilfslehrer in Neu-Schönefeld b. Leipzig –
    63 ständiger Lehrer daselbst [Quelle #7]
  • 1861 zuerst Hilfslehrer, dann ständiger Lehrer in Neuschönefeld
    Im Buch über die Geschichte von Neuschönefeld von Moritz Weißbach aus dem Jahr 1890 kann man auf Seite 46 im Kapitel XIV. Unterrichts- und Schulwesen darüber folgendes nachlesen:
    … als Lehrer haben an dieser Schule gewirkt:
    begonnen als ,,Hülfslehrer… Friedrich Wilhelm Sparwald von Ostern 1861 bis 30. Juni 1864 [Quelle #8]
    in den Folgejahren machte Friedrich Wilhelm Sparwald als Lehrer Karriere – begonnen als 20jähriger in der Dorfschule über die mittleren und höheren Stadtschulen Leipzigs bis zum Schuldirektor in Ronneburg im Alter von 37 Jahren. Er konnte anscheinend gut mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen umgehen.
  • 1864 Lehrer in Reudnitz,
  • 1871 Lehrer an der 4. Bürgerschule in Leipzig,
  • 1874 Lehrer an der Realschule I. in Leipzig,
  • 1878 Schuldirektor in Ronneburg (Sachsen-Altenburg),
  • Ich gehe davon aus, dass er auch im Fach Religion unterrichtet hatte, weil er im Handbuch der Kirchenstatistik für das Königreich Sachsen im Jahr 1882 mit Beginn seines Diakonats in der Parochie Schönefeld b. Leipzig genannt wird, wie nachfolgender Ausschnitt zeigt. In dieser Textstelle werden auch die vorherigen ,,Dienststellen“ mit benannt – eine interessante Informationsquelle für Recherchen(!) [Quelle #6]
  • 1880 Diakonus in Schönefeld b. Leipzig
    Im Zusammenhang mit seiner Tätigkeit als Diakon wird Friedrich Wilhelm Sparwald sowohl in der Neuschönefelder Chronik als auch bei seiner Tätigkeit im Neustädter Gemeindegebiet in einer Festschrift namentlich erwähnt:
    1. Geschichte von Neuschönefeld von Moritz Weißbach aus dem Jahr 1890, Seite S. 50  im Kapitel XV. Kirchwesen:
    Diaconus Friedrich Wilhelm Sparwald vom 1. März 1880 bis 31. Oktober 1884, er war in dieser Zeit außerdem als Mitglied im Schulvorstand aktiv [Quelle #8] und
    2. in der Festschrift der Kreuzgemeinde, Leipzig-Neustadt zum 25. Jubiläum aus dem Jahr 1919 kann man auf Seite 8 nachlesen:
    Diakonus Sparwald tröstete manchmal sich und andere:
    ,,Was die Schule nicht in acht Jahren fertigbrachte, bringt die Konfirmandenstunde nicht in ein paar Wochen zustande.
    [Quelle #9]
    Nach seinem Diakonat wurde Friedrich Wilhelm Sparwald zum Pfarrer berufen:
  • 1884 Pfarrer zu St. Thekla in Cleuden (im Nordosten von Leipzig),
  • 1896 Pfarrer St. Lucas in L.-Volkmarsdorf, bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1906
    dazu anschließend gleich noch mehr.
    In diesen Jahren wuchs die Bevölkerung der Leipziger Ost-Vororte stark an, wie eine Statistik aus dem Leipziger Kalender (1904) zeigt:
    Die Bevölkerungszahlen von Volkmarsdorf und Neustadt verdoppelten sich faktisch im Zeitraum von 1880 bis zum Jahr 1905.
  • Am 14.02.1919 verstorben in L.-Volkmarsdorf, wohnhaft bis zuletzt im kleinen bescheidenen Häuschen in der Idastraße 12. In der Leipziger Volkszeitung vom 1. November 1906 erschien auf Seite 5 folgender kleiner Nachruf:

3. Sprüche und Wider-Sprüche

oder das Lutherwort ,,Dem Volk aufs Maul geschaut“ gefällt nicht Jedem.

Arthur Heimburger beschreibt in seinem Buch die selbst erlebte Zeit vom Jahrhundertwechsel in Volkmarsdorf. Damals war Pfarrer Sparwaldt wegen seiner volkstümlichen Art dort beim einfachen Volk sehr beliebt. Er verstand es einfach mit den Leuten in ihrer Sprache zu reden. Dazu ein paar Beispiele [Quelle #2]:
Der Leipziger Großvater … wurde an einem Regentag begraben, so dass der Pfarrer Sparwaldt sagte: ,,Ich will es kurz machen, liebe Leute, damit ihr keine nassen Füße bekommt.“

Seine mit der geistlichen Sprechart nicht immer verträgliche Ausdrucksweise hatte sich herumgesprochen. Ab und zu kamen sogar fremde Hörer zu seinen Predigten. [Kurz gesagt: er war ein höhrenswürdiger Leipziger – siehe Anfangs-Zitat.]

Wenn der Obsthändler auf seinen Karren Kirschen feilhielt, konnte man beobachten, wie er ihm eine Tüte Kirschen abkaufte und sie an die Kinder verteilte. Das geschah ohne Mache und aus unverkennbarer Freude an den Kindern, für die selbst bei den verhältnismäßig geringen Preisen der Genuß von Obst selten war.

Pfarrer Sparwald … pflegte in seine Sonntagspredigten die alltäglichsten Dinge und ein gelegentliches Scherzwort einzuflechten.

Annonce aus der Zeitung (Der Knote, 1902):
Wenn Sie über den Fall Sparwald eine Darstellung lesen wollen, die nicht, wie es bei der vorliegenden aus Gründen der Stilgerechtigkeit notwendig war, mit Ulk vermischt ist, so empfehlen wir Ihnen: „Der Fall Sparwald und die deutsch-evangelische Christenheit“
Selbstverlag von Askan Schmitt in Leipzig. Preis 10 Pfennige. [Quelle #10]

Das gefiel dem hohen [Kirchen-]Konsistorium [in Dresden] nicht. Er sollte vor der Zeit in den Ruhestand abgeschoben werden.
Pfarrer Sparwald meinte dazu: ,,Das Konsistorium kann mich mal am Arsche lecken.“

31. Oktober 1906 (zu Luthers Reformationsfest, welcher Kontrast): Zu seiner Abschiedspredigt hatten die Frauen die Kirche mit Blumen und Tannenreisig geschmückt … dieser Pfarrer [hatte] als aufrichtiger Glaubensmann doch ein echtes Verhältnis nicht allein zu seinen Schäfchen, sondern überhaupt zu den ärmlichen Verhältnissen, in deren Mitte er wohnte und wirkte.
In der Leipziger Volkszeitung war am 1. November 1906 dazu folgendes zu lesen:

Viel Wirbel damals um einen volksnahen Pfarrer im Leipziger Osten.
In der Monatszeitschrift Der Leipziger, Heft 9 / 1906 erschien am 17. November 1906 auf Seite 11 sogar ein Bild vom Andrang vor der Lukaskirche.
Am 1. November wurde August Hugo Liebscher als neuer Pfarrer ins Amt eingeführt.

Aus heutiger Sicht kann man feststellen, dass es zum Glück solche unangepassten Pfarrer immer wieder gab – ich denke, ohne sie wären die Friedensgebete in Leipzig, die Montagsdemos und vielleicht auch die Wende nicht möglich gewesen.


Literatur- und Quellenangaben:

  • Quelle #1:   Georg Müller-Heim: Leipzig und die Leipziger Leute, Dinge, Sitten, Winke, Teutonia-Verlag, Leipzig, 1906, S. 19 (Leute), online: https://archive.org/details/bub_gb_qOtCAQAAMAAJ_2/page/n3
  • Quelle #2:   Arthur Heimburger: um die Jahrhundertwende, Verlag Tribüne Berlin, 1977, S. 16, 57/58, Anmerkung: Friedrich Wilhelm Sparwald wurde laut Kirchen- und Adreß-Büchern mit ,,d“ geschrieben, hier im Buch fälschlich als Sparwaldt mit ,,dt“.
  • Quelle #3:   St. Lukaskirche (Leipzig) bei Wikipedia, online: https://de.wikipedia.org/wiki/St._Lukaskirche_(Leipzig)
  • Quelle #4:   Verwaltungsberichte der Stadt Leipzig für das Jahr 1895 und 1896, Duncker & Humblot 1897 und 1898, Abschnitt IX. Kirchliche Angelegenheiten, Standort: Stadtgeschichtliches Museum Leipzig, ID327
  • Quelle #5:   Sächsisches Pfarrerbuch (1539 – 1939), Reinhold Grünberg, Verlagsanstalt Ernst Mauckisch, Freiberg i. Sa., 1939/40, online:
    https://histbest.ub.uni-leipzig.de/receive/UBLHistBestCBU_cbu_00000012
  • Quelle #6:   Handbuch der Kirchenstatistik für das Königreich Sachsen, 1882, Die ev.-luth. Geistlichen, Kirchschullehrer, S. 121/22 Schönefeld, online unter SLUB: http://digital.slub-dresden.de/werkansicht/dlf/98544/136/0/
  • Quelle #7:   Die Seminar-Grimmenser. Verzeichniss sämmtlicher Zöglinge, welche vom 8. Oktober 1838 bis dahin 1863 in das Königliche Schullehrer-Seminar zu Grimma aufgenommenworde sind, Grimma von Johann August Koehler, online: https://books.google.de/books?redir_esc=y&hl=de&id=x_JlAwW1jLMC&q=sparwald#v=snippet&q=sparwald&f=false
  • Quelle #8:   Moritz Weißbach: Geschichte der Gemeinde Neuschönefeld, 1890, Kapitel XIV. Unterrichts- und Schulwesen und XV. Kirchwesen
  • Quelle #9:   Pfarrer Ludwig: Aus der Kreuzgemeinde zu Leipzig, Festschrift zum 25jährigen Bestehen, 31.10.1919
  • Quelle #10:   Der Knote: unmodernes Überwitzblatt, Askan Schmitt, 1902
  • Quelle #11:   Leipziger Volkszeitung vom 1. November 1906, Seite 9 unter Leipziger Angelegenheiten, online unter SLUB: http://digital.slub-dresden.de/werkansicht/dlf/167239/

Ein Gedanke zu “Der ,,Volksbasder“ von Volkmarsdorf

  1. Oh ja, solche „unangepassten Pfarrer“ werden immer gebraucht. Ich denke da an den leider auch schon verstorbenen Pfarrer Christian Führer von der Nikolaikirche, ein Mensch mit fester Überzeugung, der wirklich für alle da war.

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