Wahl-Fall im Mai ’89

Ende Mai dieses Jahres (2019) werden hier in Leipzig Kommunalwahlen (und nicht zu vergessen auch Europawahlen) stattfinden.
Ein guter Grund mal dreißig Jahre in den Mai 1989 zurückzublicken. Damals konnte die ,,Wählervereinigung“ in der DDR (Nationale Front unter Führung der SED) noch Traumergebnisse mit nahe 100 %iger Zustimmung einfahren. Jedenfalls wurde das in den offiziellen Ergebnislisten über Funk, Fernsehen und Zeitungen so mitgeteilt.

Aber, so ganz märchenhaft liefen die Wahlen im Jahr 1989 nicht ab.
Als Mitglied eines Wahlvorstandes im Wahlkreis 01 in Leipzig-Neustadt erinnere ich mich an ein paar Merkwürdigkeiten dieses Wahl-Falls …

Am Sonntag, den 7. Mai 1989 fanden in der DDR Kommunalwahlen statt. Hier in Leipzig wurden die Stadtverordneten gewählt. Unsere Wohngegend in Leipzig-Neustadt gehörte damals zum Wahlkreis 01. Deren Wahllokale befanden sich in der Wilhelm-Wander-Schule in der Schulze-Delitzsch-Straße 23.
Im Vorfeld der Wahl wurden wie immer Mitglieder für die Wahlvorstände gesucht – ich hatte mich auch dafür gemeldet. An sich stand ein langweiliger Sonntag bevor, weil bei DDR-Wahlen außer dem ,,Zettelfalten“ bisher nie etwas Aufregendes passiert war.

Aber, da gab es einiges, was an diesem Tag anders war.

Das begann schon am Sonntagfrüh vor der Öffnung der Wahllokale, als wir 5 Mitglieder vom Wahlvorstand des Leipziger Wahlbezirks 123 das Zimmer nach kurzer Beratung etwas umgeräumt haben, siehe meine damalige Skizze rechts.

Für das Aufstellen der Tische, der Wahlurne und der Wahlkabine gab es bisher keine konkrete Vorgabe. Meisten wurde die Wahlkabine irgendwo in die Zimmerecke gestellt, weil diese kaum genutzt wurde. Das wollten wir aber etwas ändern. Wir wollten den Ablauf Wahlregistrierung und Stimmzettelausgabe, links an den lang zusammengestellten Tischen –> Wahlkabine, hier als Winkel ( < ) rechts dargestellt –> Einwurf in die Wahlurne, unten rechts als Normal-Ablauf vorgeben. Der Wahlvorstand saß dabei unten links und sollte ,,aufmunternd“ mitwirken.

In den offiziellen Hinweisen für die Tätigkeit der Wahlvorstände [Quelle #1] hieß es unter Punkt 2 ja schließlich:

und wir haben ja nur angestrebt, dass insbesondere die Wahlkabinen leicht zugänglich waren und die Stimmzettel ungestört zur Stimmabgabe vorbereitet werden konnten.
Bei der anschließenden Begehung der Wahllokale wurde das zu unserer Überraschung durch den Wahlkreis-Vorstand auch so ,,abgesegnet“.

Ab 8 Uhr ging’s los, viele Wähler haben nach unseren aufmunternden Worten die Wahlkabine zum ungestörten Vorbereiten des Stimmzettels genutzt. In der aktuellen Wählerliste unseres Wahlkreises 123 waren insgesamt 405 Wahlberechtigte verzeichnet. Von einem richtig tollem und begeisterten Andrang der Wähler konnte man aber nicht sprechen:
es kamen bis
12 Uhr 188 Wähler (46,2 %),
15 Uhr 280 Wähler (68,3 %),
17 Uhr 329 Wähler (80,0 %) und am Schluss
18 Uhr 334 Wähler (81,3 %).

Interessant wurde es um 18 Uhr, nach Abschluss aller Wahlhandlungen hatten wir gemäß den Hinweisen für die Tätigkeit der Wahlvorstände, Punkt 14 die ordnungsgemäße öffentliche Auszählung der Stimmen zu gewährleisten:


Punkt 18 Uhr kamen zur Auszählung noch weitere Personen in unser Wahllokal. Soweit so gut, aber ein paar blieben an der Tür stehen und versuchten zwei mit Zettel und Bleistift ausgerüstete junge Männer am Betreten des Wahllokals zu hindern. Das haben wir aber nicht geduldet, schließlich sollte ja eine ordnungsgemäße öffentliche Auszählung der Stimmen stattfinden. Laute Wortmeldung an die dubiosen Störer: ,,Das ist eine öffentliche Auszählung – bitte lassen Sie die Bürger eintreten!“ und an die Zettel-Leute gerichtet: ,, Bitte kommen Sie direkt an den Auszählungstisch!“
Damit stand der offiziellen Auszählung nichts mehr im Wege. Die Ergebnisse wurden von uns (und den interessierten Bürgern) ordnungsgemäß erfasst:

  • Wahlberechtigte lt. Wählerliste                                                                            405
  • abgegebene Stimmen, einschließlich zusätzlich ausgestellter Wahlscheine        334
  • Wahlbeteiligung                                                                                                   81,3 %
  • davon ungültig                                                                                                     keine
  • gültig                                                                                                                    334
  • gültige Stimmen für den Wahlvorschlag                                                               334  (91,9 %)
  • gültige Stimmen gegen den Wahlvorschlag                                                         27  (8,1 %)

 Abends in der Spätausgabe der Aktuellen Kamera (DDR-Fernsehen) sah das aber anders aus. Egon Krenz als Vorsitzender der Wahlkommission verlas das vorläufige Wahlergebnis, und leitete dies mit folgenden Worten ein:
,,Liebe Bürgerinnen und Bürger der Deutschen Demokratischen Republik. Liebe Freunde und Genossen. Die Kommunalwahlen im vierzigsten Jahr unseres Arbeiter- und Bauernstaates wurden zu einem eindrucksvollen Votum für die Kandidaten der Nationalen Front der Deutschen Demokratischen Republik. Das vorläufige zusammengefasste Gesamtergebnis der Wahlen zu den Stadtbezirksversammlungen von Berlin, zu den Kreistagen und den Stadtverordnetenversammlungen der Stadtkreise widerspiegelt das Bekenntnis der Wählerinnen und Wählern zu den Zielen des gemeinsamen Wahlprogramms.“ [Quelle #2]

Und am nächsten Tag konnte man in den Zeitungen lesen (hier rechts als Beispiel im ND vom 8. Mai 1989), dass in der Stadt Leipzig 96.68 % der Wähler bei einer Wahlbeteiligung von über 98 % für die Kandidaten der Nationalen Front gestimmt hatten.

Diese Wahlergebnisse waren aber nicht nur bei uns im Leipziger Wahlkreis 01 mit einer (damals) so schlechten Wahlbeteiligung und so schlechtem Ergebnis für die ,,Wählervereinigung“ der Nationale Front ausgefallen. Durch die unabhängige Erfassung der Wahlergebnisse konnte nachgewiesen werden, dass die Ergebnisse offenbar stark manipuliert wurden.

Fazit: Das war die letzte Wahl vor dem ,,Fall“ der DDR – und einer der Sargnägel.


Quellenangaben:

  • Quelle #1:   Wahlen am 7. Mai 1989: Hinweise für die Tätigkeit der Wahlvorstände, herausgegeben von der Wahlkommission der Republik – Zentrales Wahlbüro, WDS3d, Ag 112/89
  • Quelle #2:   DRA (Deutsches Rundfunkarchiv) 1889-1990 Wende-Zeiten, online: http://1989.dra.de/themendossiers/politik/kommunalwahl.html
  • eigene Unterlagen

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