Im Juli 1984 ist im Leipziger Osten, in der Volkmarsdorfer Hildegardstraße, ein Gebäude im bewohnten Zustand teilweise eingestürzt. Darüber hatte ich bereits berichtet. Das Ganze erschien uns damals eher spontan und zufällig.
Das Studium der betreffenden Bauakten im Stadtarchiv Leipzig weist aber darauf hin, dass dieser (Häuser-) Fall auch ein paar unglaubliche bis haarsträubende Aspekte aufwies und durchaus vermeidbar gewesen wäre, aber lest selbst …
+ Häusergeschichte ganz früher (Mitte des 19. Jhd.)
Aus den ,,Acten des Rathes der Stadt Leipzig in Baupolizeisachen“ ist zu ersehen, dass die beiden betreffenden Volkmarsdorfer Häuser in der damaligen Louisenstraße /später Hildegardstraße Nr. 3 und 5 bereits Mitte der 1860er Jahren existiert haben [Quelle #1].
In der Bauakte Nr. 1866 ist auf Blatt 23 ein Situationsplan für die ,,neu zuerbauenden Wohnhäuser der Herren T(raugott). Illgner und A(ugust). Höhne an der Louisenstraße“ in Volkmarsdorf dargestellt. Daraus ist ersichtlich, dass diese Gebäude mit drei Stockwerken und Dachlogis in den Jahren 1863/64 gemeinsam errichtet wurden. Wie sahen die Häuser damals aus? Aus dem Gedächtnis habe ich mal grob versucht die Straßenfront zu zeichnen, Skizze links. Beide Häuser waren relativ schmal gebaut: das Haus Nr. 3 mit einer Breite von knapp 8 m und das Haus Nr. 5 mit knapp 10 m – beide etwa 10 m tief.
Die Nachbargrundstücke Nr. 1 und 7 standen zu dieser Zeit bereits.
Die Häuser Hildegardstr. 3 und 5 waren also im Jahr 1976, in dem unsere nachfolgende Geschichte beginnt, bereits über 110 Jahre alt.
[Harald St.: alle Namen sind im Folgenden gekürzt]
+ drei Schreiben zu baulichen Mängeln im Jahr 1976:
16. August 1976:
In der Bauakte zur Hildegardstraße 3 beginnt der Schriftverkehr über ernst zu nehmende bauliche Mängel mit einem Schreiben des Hauseigentümers Reinhard K. an das Stadtbezirksbauamt Nordost. Darin heißt es:
,,Die Bewohner meines Grundstückes machten mich darauf aufmerksam, daß sich die Giebelwand vom Fußboden löst. Im 2. und 3. Stockwerk des Hauses hat sich auf eine Länge 1,50 Meter die Giebelwand um 5 cm von der Scheuerleiste gelöst. …“
und er weist darauf hin, dass sich nach dem Abbruch des Nachbargebäudes Nr. 1 Deckenrisse in seinem Grundstück bemerkbar machten. Außerdem bittet er um Unterstützung zur Reparatur dieser Bauschäden, weil die ihm vom Stadtbezirk Nordost zugewiesenen Baufirma wegen Überlastung momentan keine neuen Aufträgen/ Reparaturarbeiten entgegen nehmen kann.
Am 2. September 1976 wurde infolge dieses Schreibens im Grundstück Hildegardstr. 3 eine Ortsbesichtigung durch die Staatliche Bauaufsicht Leipzig Nordost durchgeführt.
Daraus resultierten (nach einer schöpferischen Pause von drei Wochen) zwei Schreiben – ein internes und eins an den Hauseigentümer.
24. September 1976:
In einem internen Schreiben der Staatl. Bauaufsicht Leipzig Nordost an Abteilung Wohnungspolitik Stadtbezirk Nordost wurde der Sachverhalt erörtert und trotz der Lösung der Giebelwand vom Gebäude ausgeführt:
,,Ein weiteres sicheres Bewohnen ist maximal nur noch 3 Jahre gewährleistet.
Wir schlagen vor, das Gebäude bis zum Oktober 1979 freizustellen.“
Also für alle, die den realen Sozialismus der 70er und 80er Jahre in der DDR nicht hautnah miterlebt haben: es gab keinen freien Wohnungsmarkt und die staatlich gelenkte Abteilung Wohnungspolitik konnte für die Notfälle der Hildegardstraße auch keine sofortige Austausch-Wohnungen zur Verfügung stellen. Daher hat man den dreijährigen Räumungszustand verfügt, obwohl das für die Bewohner eigentlich untragbar war …
Im Schreiben der Staatlichen Bauaufsicht Leipzig Nordost an den Hauseigentümer Reinhard K. ging man sogar noch einen Schritt weiter. Weil der Staatlichen Bauaufsicht bekannt war, dass es keine freien Bau-/Reparaturkapazitäten gab, formulierte man das so:
,,Sehr geehrter Herr K.!
Am 2.9.76 wurde im o.g. Grundstück eine Ortsbesichtigung durchgeführt und haben festgelegt, daß das Gebäude bis Oktober 1979 freigestellt werden muß.
Wir schlagen Ihnen vor, keine größeren Instandsetzungsarbeiten durchzuführen.
Der angegebene Termin kann sich verkürzen oder verlängern, er dient lediglich als Richtlinie.
Hochachtungsvoll M., Techniker“
Mit anderen Worten: verzichten Sie auf Instandsetzungsarbeiten, weil wir eh niemanden haben, der das machen könnte. Und dazu noch der kleine Schlusssatz mit dem dynamischen Termin – zynischer geht’s kaum.
Der Zeitraum von drei Jahren verstrich, an den Häusern wurde nichts (Größeres) instandgesetzt und für die Bewohner hat sich nichts zum Besseren geändert. Auch für das Nachbarhaus Hildegardstr. 5 ging der Vorgang im Jahr 1979 in eine zweite Runde …
+ Schreiben zu baulichen Mängeln im Jahr 1979:
6. Juni 1979
Auch zum gleichaltrigen Nachbarhaus Hildegardstr. 5 teilte die Staatliche Bauaufsicht Mitte des Jahres 1979 an die Abt. Wohnungspolitik Stadtbezirk Nordost mit:
,,Bereits 1976 forderten wir die Freistellung des Gebäudes bis 30.9.76.
Die damals vorhandenen baulichen Schäden haben sich in der Zwischenzeit weiterhin verschlechtert. Entsprechend des Zustandes, wird von und das gesamte Gebäude ab 1.8.79 gesperrt. Bis zu diesem Zeitpunkt müssen die z.Zt. noch belegten 3 WE [Wohneinheiten] geräumt sein.
(Unterschrift) S.“
Auch in der folgenden Zeit hat sich am Bauzustand der Häuser Hildegardstr. 3 und 5 nicht viel getan.
Vielleicht, so vermute ich, haben die örtlichen Behörden gehofft, dass sich schon alles bei der geplanten Sanierung dieses Abschnittes der Leipziger Ostvorstadt ab dem Jahr 1986 schon noch alles regeln würde – man müßte nur bis dahin durchhalten.
Aber wie folgende Schreiben zeigen, kam es 5 Jahre später, im Juni 1984, zum Ernstfall und die Häuser waren immer noch bewohnt …
= Ruinen schaffen – ohne Waffen im Jahr 1984:
Links eine Volkmarsdorfer ,,Tatort-Skizze“ mit den beiden Häusern Hildegardstr. 3 und 5 (Pfeil) im Leipziger Osten. Die Skizze habe ich mithilfe einer Schadenskarte vom Dezember 1985 [unter Verwendung Quelle #2], unter Hinzufügung der Grundstücke Hildegardstr. 3 und 5 zusammengestellt, umgeben von Ruinen und ruinösen Gebäuden (orange eingefärbt), und vielen stark beschädigten Häusern (rosa eingefärbt). Zusätzlich habe ich das Gebäude mit den Hütern von Gesetz und Ordung vor Ort gekennzeichnet: das nahegelegene VP[Volkspolizei]-Revier Leipzig-Nordost (grün).
Am 3. oder 4. Juli 1984 kam es wie im wortblende-Beitrag ,,Filmriss an der Hildegardstraße“ beschrieben, zum Teileinsturz der Hildegardstr. 3
4. Juli 1984
Nach dem Hauseinsturz der Hildegardstr. 3 teilt die Staatliche Bauaufsicht, Stadt Leipzig der Abt. Wohnungspolitik des Leipziger Stadtbezirks Nordost mit:
,,Aufgrund des Gebäudeeinsturzes Hildegardstr. 3 und der dadurch aufgetretenen Gefährdung des Gebäudes Hildegardstr. 5 gelten die noch genutzten 2 WE ab sofort als bauaufsichtlich gesperrt. Das Gebäude wird abgebrochen.
Mit sozialistischen Gruß
Dipl.-Ing. S., Leiter der Staatlichen Bauaufsicht, Stadt Leipzig“
Ein besonderes ,,Schmankerl“ ist die hier verwendete Grußformel: mit sozialistischem Gruß! Das war fast ein Nachruf/ letzter Gruß auf dem Häusereinsturz, an dem die Behörden ja nicht ganz unschuldig waren …
Bild mit Blick aus der Hildegardstraße auf die Bogislawstraße zum ruinösen Bauzustand des genannten Wohnviertels im Jahr 1988 [Quelle #3]. Rechts das Abbruchmaterial des Hauses Bogislawstr. 5, gegenüber links die Hauseingangstür Bogislawstr. 8, daneben Nr. 6 mit Ladenzone.
Interessant ist ein weiteres Schreiben gleichen Datums von der Staatlichen Bauaufsicht Stadt Leipzig an die Gebäudewirtschaft Leipzig, BT Nordost über das weitere Verfahren mit den Grundstücken Hildegardstr. 3 und 5. Dort wird ausgeführt:
,,Auf Grund des Einsturzes des Gebäudes Nr. 3 und des dadurch in Mitleidenschaft gezogenen Gebäudes Nr. 5 wird hiermit folgendes festgelegt:
1. Der Abbruch beider Gebäude wird verfügt.
2. Die Beräumung des Schuttes (Gebäude Nr. 3) erfolgt in Anwesenheit des ehemaligen Mieters.
…
5. Als Abbruchtechnologie für das Gebäude Nr. 5 wird das Seilzugverfahren festgelegt.“
Mit Stempelabdruck: Ministerium für Bauwesen, STAATLICHE BAUAUFSICHT, Wappen der DDR, Stadt Leipzig.
Dazu noch eine kurze Erläuterung:
- Der Abbruch beider Gebäude – endlich mal konsequent gehandelt!
- Die Anwesenheit des Mieters war erforderlich, weil sich sein Hausrat unter den Trümmern des Hauses befand. Er konnte also noch sagen, was noch brauchbar ist!
- Die Verwendung des Seilzugverfahrens deutet darauf hin, dass das gesamte Gemäuer nicht mehr sehr stabil war und ein kurzes Anschubsen reichte, um das Hasu dem Erdboden gleich zumachen …
Literatur und Quellenverzeichnis:
- Augenzeugenbericht ,,Filmriss an der Hildegardstraße“, veröffentlicht in wortblende am 26. April 2015.
- Quelle #1: Stadtarchiv Leipzig, BauAkt Nr. 1868 und 1866: ,,Acten des Rathes der Stadt Leipzig in Baupolizeisachen über…“ die Grundstücke Hildegardstraße 3 und 5
- Quelle #2: Büro des Chefarchitekten Leipzig, Plan Nr. 527, Leipzig-Ostvorstadt, WK2 Volkmarsdorf, Karte des Bestandes, vom 19.12.1985, online: http://www.digipeer.de/index.php?id=826843617
- Quelle #3: Bild von der Ecke Hildegard-/ Bogislawstraße aus dem Jahr 1988, aufgenommen und für diesen Beitrag zur Verfügung gestellt von Bert Hähne (vielen Dank dafür!)