Turner-Passage Neustadt

Im früheren Gemeindegebiet von Leipzig-Neustadt hat es eine ,,Turner-Passage“ gegeben. Das steht jedenfalls im Adressbuch des Jahres 1906 so drin, Ausschnitt rechts.
Wo diese Passage gewesen sein soll, was das mit Turnern zu tun hatte und ob da heute noch was zu sehen ist, dem möchte ich in diesem Beitrag mal nachgehen …

… über ein Gemeinde-Grundstück in Neustadt

Die Bezeichnung ,,Turner-Passage“ habe ich erstmals im Leipziger Adreß-Buch (LAB) für das Jahr 1906 entdeckt. Nachstehend in der linken Abbildung habe ich den Eintrag mal kurz zusammengefasst:

  • er ist unter der Alleestraße Nr. 6 im Zusammenhang mit einer Kleinkinderbewahranstalt und dem Turnverein zu Leipzig Neustadt zu finden, darauf komme ich später nochmals zurück.
  • Die Nummerierung der Häuser in der Alleestraße erfolgte etwa ab 1877 bis zum Jahr 1906 links am Straßenanfang mit der Nr. 1 beginnend und fortlaufend bis zum Straßenende sowie auf der rechten Seite zurück bis zur Nr. 35.
  • Die nördlichste Straße im Neustädter Wohngebiet hieß vom Oktober 1873 bis Oktober 1914 Alleestraße, ab 1. November 1914 Wissmannstraße und ab 1. November 1950 Schulze-Delitzsch-Straße. [Quellen #1, #2, #3]

Der Kartenausschnitt auf der rechten Seite stammt aus dem Jahr 1912 und zeigt den an der damaligen Alleestraße Nr. 6 bzw. 13 befindlichen Grundbesitz der Gemeinde Neustadt. Dieses Areal habe ich Rot gekennzeichnet. Die kleine Fläche auf der linken Seite dieses Areals gehörte bis Mitte der 1930er Jahre noch der Deutschen Reichsbahn. Sie nutzte diesen Bereich als Gartenfläche.

Mit der Änderung der Hausnummerierung in der Alleestraße im Jahr 1907 wurden alle Häuser umnummeriert: in gerade Haunummern auf der rechten Straßenseite und ungerade auf der linken Straßenseite – wie es auch heute noch üblich ist. Damit wurde aus der früheren Haus-Nr. 6 eine Nr. 13.

Der Zugang zum Gemeinde-Grundstück erfolgte über einen Durchgang im Gebäude (heute: Schulze-Delitzsch-Str.) Nr. 11.
Wie sieht das heute vor Ort aus?

Im linken Bild ist der Zugang zur früheren ,,Turner-Passage“ auf der Nordseite der Schulze-Delitzsch-Straße zwischen dem Eingangstor zum Gebäude Nr. 11 und dem Nachbargebäude Nr. 15 (rechts) zu sehen.
Auf dem rechten Bild ist der Blick über das alte Wegepflaster vom Zugang zu den Gemeindegebäuden in umgekehrter Richtung, nach Süden, zu sehen
und oho, der sonnige Licht-Durchblick in Bildmitte weist in die Schulze-Delitzsch-Straße, auf das Gebäude mit der Nr. 12.   🙂  🙂

Das Gebäude Schulze-Delitzsch-Str. 11 ist in der Liste der sächsischen Kulturdenkmale für Leipzig unter der Obj.-Dok.-Nr. 09293247 eingetragen.
Dort wird erwähnt, dass dieses Gebäude in den 1870er Jahren als Mietshaus in geschlossener Bebauung errichtet wurde, eine Putzfassade mit Sandsteingliederung aufweist und baugeschichtlich von Bedeutung ist. [Quelle #4]
Dem genannten Baujahr kann ich nach Recherchen im LAB und im Stadtarchiv [Quellen #1 und #5, BauAkt Nr. 22831, 22832] nicht zustimmen: das damalige Haus Nr. 5b (mit der heutigen Nr. 11) wurde um das Jahr 1890 gebaut. Im LAB von 1891 wird es erstmals separat erwähnt, während das ältere Nachbarhaus Nr. 5 (heute die Nr. 9) im Jahr 1872 als Neubau – Eckhaus – errichtet, dann um 1889 geradlinig umgebaut wurde. In der Planskizze rechts habe ich versucht die Bebauungssituation rings im die gemeindeeigenen Grundstücke mit dem Kranken- und Armenhaus (Haus Nr. 6) und dem Turnplatz an der Neustädter Alleestraße um das Jahr 1884 darzustellen.

Was war auf dem Gelände früher geplant worden und welche Gebäude wurden dort gebaut?

Hier in zeitlicher Abfolge:

1. Armen- und Krankenhaus (1882/83)

Im Jahr 1881 wurde die Gemeinde als Neustadt bei Leipzig eigenständig und damit unabhängig von Schönefeld und der Rittergutsherrschaft der Baronesse Hedwig von Eberstein. Damit konnten endlich wichtige Bau- und Regulierungsprojekte in Angriff genommen werden, die vorher aus Kostengründen versäumt oder verschleppt worden waren. Dazu zählte auch der längst überfällige Bau eines Armen- und Krankenhauses. Aus den Gemeindeakten von Neustadt [Quellen #5 und #6] heißt es in einem Schreiben an die Königliche Amtshauptmannschaft zu Leipzig:
,,Auf unserem, an der Alleestraße in Neustadt gelegenem Grundstücke, beabsichtigen wir ein Armen- und Krankenhaus nach beiliegender Zeichnung zu erbauen und ersuchen die Königliche Amtshauptmannschaft zu Leipzig hiermit ergebenst: ,Die hierzu nöthige Bauconcession geneigtest ertheilen zu wollen.‘
Das neuzuerbauende Armen- und Krankenhaus erhält eine Länge vo 18,10 m und eine Tiefe von 11.30 mit einem Treppenvorbau von 5,50 m Länge und 1,60 mtr. Tiefe und soll Parterre, 2 Etagen und Dachgeschoß hochverbaut werden.
Die Leitung haben wir Herrn Architekt Bechmann übertragen und wird zur Zeit der Bauausführende angezeigt werden.
Einer geneigten baldigsten Resolution entgegensehend, zeichnet hochachtungsvoll der Gemeinderath Dietrich Gem. Vors.
Neustadt b. L, am 28. Juli 1882“
Im September des Jahres 1882 wurde der Bau-Contract mit Maurermeister Heinrich Bruno Oehlschlegel mit dem Ziel geschlossen, den Rohbau bis spätestens zum Jahresende vollständig fertig zu übergeben. Im Falle der Nichteinhaltung dieses Termins galt eine:
,, … zu zahlende Conventionalstrafe von 10 Mark für jeden Tag der zur Vollendung des Baues mehr erforderlich wird.
Dazu kam es aber nicht, der Der Rohbau wurde vorfristig noch vor Weihnachten, am 21. Dezember 1882, fertiggestellt.

Als Brunnenbauer wurde Carl Forberg aus dem nahegelegenen Neusellerhausen und als Zimmermeister Friedrich Hermann Riedel (ortsansässig aus der Hedwigstraße) benannt. Ziel war es das gesamte Gebäude bis zum 31. März 1883 fertigzustellen.
Aus einem im Leipziger Dorfanzeiger abgedruckten Überblick über die Thätigkeit des Gemeinderates und der Gemeindeverwaltung im Jahr 1883 ist zu entnehmen:
,,Ferner kam im vergangenen Jahre der Kranken- und Armenhausbau zum Abschluss, welcher inclusive der inneren Einrichtung einen Kostenaufwand von 22.742 Mark, außer 5.092 Mark Kostenpreis für das von der Besitzerin des Rittergutes Schönefeld, Fräulein Baronesse von Eberstein, erworbene Bauland, also in Summe 27.835 Mark verursacht hat.“[Quelle #7]
Weil keine Bauverzögerungen erwähnt werden, nehme ich an, dass das Bauvorhaben rechtzeitig und plangemäß bis zum März 1883 abgeschlossen werden konnte.

Leider konnte ich kein Foto vom alten Gebäude auftreiben. Deshalb habe ich die Darstellung in einer Gebäudeskizze im folgenden linken Bild versucht, die ich mit Hilfe alter Bauzeichnungen zusammengestellt habe. Sie zeigt das Armen- und Krankenhaus aus östlicher Richtung. Für die tatsächliche Fenstergestaltung kann ich mich allerdings nicht verbürgen.

Auf dem rechten Bild ist die aktuelle Gestaltung dieses Geländes hinter der Schulze-Delitzsch-Straße bis zum Bahnareal zu erkennen: als Spielplatz mit Wippe, Kletterturm, Rutsche, Kletterwand, Matschtisch, Tischtennisplatte, Kletterpodest, Fußballplatz, Schattenplätzen und Bänken.

2. Turnhalle und ,,Turner-Passage“ (1889/90)

Im oben genannten Bericht Überblick über die Thätigkeit des Gemeinderates und der Gemeindeverwaltung im Jahr 1883 geht es unter anderem auch um den Neustädter Turnverein:
,,… Ferner hat die Gemeinde durch Garantieleistung resp. Ankauf eines 820 Quadratmeter großen Stück Landes dem Turnverein zu einem Turnplatze verholfen.“
In der obigen Bebauungskizze der Alleestraße, Stand im Jahr 1884, ist auch der Turnplatz mit eingezeichnet. Es dauerte aber weitere fünf Jahre, bis der Turnverein von der Mitnutzung der Schulturnhalle zu einer eigenen Turnhalle kam. Die Turnhalle wurde in den Jahren 1889/90 nach einem am 1. August 1889 vom Architekten Hermann Gerstenberger gemeinsam mit dem Turnrath Woldemar Stichert eingereichten Entwurf gebaut, Skizze unten links. Im Adressbuch des Jahres 1890, Bild rechts, wird neben dem Turnplatz auch die Turnhalle genannt. [Quelle #5]

Von der Turnhalle konnte ich mangels fotografischer Abbildungen auch nur eine Skizze nach Vorlagen aus alten Bauakten mit von mir frei erdachter Fenstergestaltung anfertigen.
Das Logo vom Turnverein Neustadt kann man im folgenden Bild aus einem alten Briefkopf erkennen.

Wie man auf der aktuellen Aufnahme vom März 2020 sehen kann, wird die historische Fläche vom alten Turnplatz und der Turnhalle als Bolzplatz offenbar sehr gut angenommen. Dieser Fußballplatz gehört heute zum bereits genannten Spielplatz an der Schulze-Delitzsch-Straße.

3. die Kinderbewahranstalt (1889/91)

Im Februar 1889 reichte ein Neustädter Komitee zur Errichtung einer Kinderbewahranstalt in einem Schreiben an die Königliche Amtshauptmannschft Leipzig ein Gesuch zum Bau einer Kinderbewahranstalt mit einer Volksküche ein. Dieses Gebäude sollte auf einer Fläche hinter dem Armen- und Krankenhaus platziert werden.
Im Zuge der Eingemeindung von Neustadt zur Stadt Leipzig im Jahr 1890 wurde dieses Projekt mehrfach überarbeitet und kam schließlich im Jahr 1891 in abgespeckter Version in der Umfunktionierung des vorherigen Kranken- und Armenhaus als Wohnhaus mit Kinderbewahranstalt zur Ausführung, siehe Eintrag im LAB aus dem Jahr 1892. Vorsteherin der Kinderbewahranstalt wurde Frau Emmy Metz, der Verwalter des früheren Armen- und Krankenhauses Herr Richard Zimmermann wird in diesem Verzeichnis in seiner neuen Funktion als Straßenwärter genannt. [Quelle #5]

4. Projekt für Gemeindehaus der Kreuz-Kirche (1930er Jahre)

Für die bereits genannte Fläche hinter dem Haus (Wissmannstr.) Nr. 6 gab es in den 1920/30er Jahren auch ein Projekt für ein dreigeschossiges Gebäude mit Dachgeschoss als Gemeindehaus der Heilig-Kreuz-Kirche von Leipzig-Neustadt. Das Vorprojekt vom September 1926 hatten der Architekt C. E. Voigt (B.D.A.) gemeinsam mit Pfarrer der Heilig-Kreuz-Kirche Friedrich Theodor Ludwig eingereicht. In der Festschrift zum 125 jährigen Bestehen der Kreuzkirche im Jahr 2019 wurde dazu ausgeführt:
,,In dem Gemeindehaus sollten im Erdgeschoss ein Gemeindesaal mit Garderobe und ein Sitzungszimmer Platz finden; im ersten Obergeschoss wäre die Pfarrwohnung und [im 2. Obergeschoss] zwei Wohnungen für kirchliche Angestellt gewesen. Für die Gemeindeschwester waren Räume im Dachgeschoss vorgesehen. Leider kam der Bau nicht zur Ausführung…“
Auch aus brandschutztechnischen Gründen gab es immer wieder Bedenken vom Rat der Stadt Leipzig, weil der Zugang zum Gemeindegebäude nur von der damaligen Wissmannstraße aus über die Turner-Passage möglich war. Eine geforderte zusätzliche Einfahrt, z. B. für die Feuerwehr, aus Richtung der Tauchaer Straße (heute: Rosa-Luxemburg-Straße) war nicht möglich, weil dieser Bereich zum Reichsbahn-Areal gehörte und damit nicht öffentlich zugänglich war. [Quellen #5 und 8]

… aktueller Überblick zum Finale

Heute gibt es auf diesem früheren Gemeinde-Grundstück keine Gebäude mehr. Beide Gebäude, die Kinderbewahranstalt und die Turnhalle wurden beim Bombenangriff am 4. Dezember 1943 zerstört. Vielleicht hat es dort später noch Ruinen gegeben?
Als wir im Jahr 1976 in die Schulze-Delitzsch-Straße 18 gezogen sind, gab es dort hinter den Häusern Nr. 11 und 15 keine Gebäudereste mehr.
Das ist auch auf dem Google-Earth-Bild (links) so zu erkennen. Es zeigt die aktuelle Bebauung an der Schulze-Delitzsch-Straße aus der Vogelperspektive – in Bildmitte das Haus Nr. 11 (roter Punkt) mit der Turner-Passage, links die Wilhelm-Wander-Schule mit der Nr. 23 und darüber die Heilig-Kreuz-Kirche am Neustädter Markt Nr. 8. Zusätzlich habe ich mit roten Linien die Lage der projektierten und errichteten Gebäude in diesem Hinterhof-Bereich skizziert.

Klar ist jedenfalls, dass hier keine abergläubigen Stadtverwalter etwa auf die Vergabe der Hausnummer 13 verzichtet haben – sondern, dass es eine Nr. 13 schon gegeben hat, die aber nach dem Krieg nie wieder vergeben wurde.
Zum Abschluss noch ein sonniges Bild von meinem Besuch in der Schulze-Delitzsch-Straße am 4. März 2020. Im Hintergrund sind links die Häuser Schulze-Delitzsch-Str. 14 bis 2 und auf der rechten Seite die Häuser 15 bis 3, mit dem Durchgang im Haus Nr. 11 zu sehen.


Literatur und Quellenverzeichnis:

  • Quelle #1:   Leipziger Adreß-Buch für 1906, nachgetragen bis Herbst 1905, Alleestraße, online über SLUB und weitere Adressbücher der Stadt Leipzig bis zum Jahr 1943
  • Quelle #2:   Leipziger Dorfanzeiger vom Sa, 25.10.1873, S.10: Bekanntmachung vom Königlichen Gerichtsamt Leipzig I vom 21. Oktober 1873
  • Quelle #3:   Leipzig, Straßennamen und ihre Bedeutung, Schulze-Delitzsch-Str. in Neustadt-Neuschönefeld, online unter Stadt Leipzig bzw. als pdf-Datei
  • Quelle #4:   Liste der Kulturdenkmale in Neustadt-Neuschönefeld, online über Wikipedia, siehe auch pdf-Datei zur Schulze-Delitzsch.-Str. 11
  • Quelle #5:   Stadtarchiv Leipzig, BauAkt Nr. 22830, 22831, 22832 und 22840: ,,Acten des Rathes der Stadt Leipzig in Baupolizeisachen über…“ die Gebäude auf dem Grundstück der Schulze-Delitzsch-Str. 13 (Armen- und Krankenhaus, Kinderbewahranstalt, Turnhalle und das Projekt zum Gemeindehaus der Heilig-Kreuz-Kirche)
  • Quelle #6:   Stadtarchiv Leipzig, Gemeinden, GR Nsta, Nr. 140, Armen- und Krankenhaus (ab dem Jahr 1881)
  • Quelle #7:   Leipziger Dorfanzeiger, Freitag, den 8. Februar 1884, Nr. 17 mit Überblick über die Thätigkeit des Gemeinderates und der Gemeindeverwaltung im Jahr 1883
  • Quelle #8:   Festschrift zur 125 Jahrfeier der evangelisch-lutherischen Kirche zum Heiligen Kreuz Leipzig, 2019, zum Gemeindehaus auf S. 19
  • Kartenausschnitte bzw. Karten- und Gebäudeskizzen und Fotos aus eigenem Archiv

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