Wie kam es eigentlich in Volkmarsdorf zu einem ,,Rath-Haus“? Diese Inschrift steht jedenfalls frisch saniert und gut sichtbar über der Eingangstür des Gebäudes an der Ecke Liebmann-/ Bogislawstraße im Leipziger Osten (rechts im Bild).
Über Sinn, Zweck und Datum dieses Rathausbaus gibt es heute erstaunlich wenig Konkretes zu lesen. Da wird zum Beispiel das Baudatum zwischen ,,kurz vor der Eingemeindung“(1890) bis ,,um 1905“ gehandelt. Dabei hätte, wie ich zeigen möchte, doch schon ein Blick in die damalige Tagespresse Klarheit schaffen können …
Auf einer alten Ansichtskarte aus dem Zeitraum 1905 …1910 ist als zentraler Bau das Rathaus von Volkmarsdorf als Dominate an der Straßenecke Kirch- /Bogislawstraße zu sehen (unten links). Damals war das Rathaus auch ein zentrales Gebäude in repräsentativer Lage von Volkmarsdorf. Schließlich heißt es auf der Karte auch ,,Partie am Rathaus“.
Die frühere Kirchstraße ist heute als Hermann-Liebmann-Straße bekannt und von der ehemaligen Bebauung sind nur noch ein paar wenige Gebäude übrig geblieben. Eines davon ist dieses frühere Rathaus.
Anfang September 2015 habe ich im Eingangsbereich zu diesem Haus Liebmannstr. 42 noch das alte Brandkataster-Schild mit der Bezeichnung Volkmarsdorf, Abteilung A, Nr. 57 fotografieren können (Bild unten rechts). Im Rahmen der Gebäudesanierung ist dieses historische Schild als Zeitzeuge offenbar ,,verdampft“- Schade.
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Das Gebäude ist heute auch in der Liste der sächsischen Kulturdenkmale für Volkmarsdorf unter der Objekt-ID 09263727 zu finden.
Dort steht, dass das Gebäude in der Hermann-Liebmann-Straße 42 als ehemaliges Rathaus von Volkmarsdorf um 1905 im Stil des Historismus in Ecklage erbaut wurde. Es weist, entsprechend dieser Quelle, eine repräsentative Klinkerfassade mit reicher Sand- und Kunststeingliederung auf, ist mit Eckerker und Balkon ausgestattet und ist baugeschichtlich und ortsgeschichtlich von Bedeutung [Quelle #1].
Einwand zum angegebenen Baudatum 1905
Wie oben im Intro-Bild zu sehen, wurde über der Eingangstür die Inschrift ,,Rath-Haus“ mit ,,th“ geschrieben. Diese ,,th“-Schreibung deutet darauf hin, dass die Beschriftung vor dem Jahr 1901 angebracht wurde. Denn im Jahr 1901 fand im Deutschen Reich die Zweite Orthographische Konferenz statt und dort wurde beschlossen, dass in heimischen Wörtern das h nach t grundsätzlich wegfallen sollte (Tal, Tür oder Rat statt Thal, Thür oder Rath). In Fremdwörtern wie Thron und Theater wurde die th-Schreibung danach bis heute beibehalten [Quelle #2].
Volkmarsdorf Mitte des 19. Jahrhunderts, Rückblick
Ab Mitte des 19. Jahrhunderts nahm auch die Bevölkerung von Volkmarsdorf überproportional zu. Deshalb wurde ab dem Jahr 1862 von Eigentümer des Grundbesitzes, Conrad Ewald Graf von Kleist, der östliche Teil von Volkmarsdorf bis zur Conradstraße (heute: Konradstr.) zur Bebauung erschlossen.
Im Leipziger Tageblatt und Anzeiger, vom 26. Juli 1901, kann man dazu lesen:
… ,,Das 1862 erschlossene Bauareal war Mitte der achtziger Jahre so ziemlich bebaut; Volkmarsdorf zählte 1885 12.696 Einwohner. Die bisherigen Verwaltungsräume im Schulgebäude an der Bogislawstraße erwiesen sich als unzureichend, deshalb trat die Frage wegen Errichtung eines eigenen Verwaltungsgebäudes an die Gemeindevertretung heran. Nach längeren Verhandlungen wurde beschlossen, das Mißlitz’sche Grundstück am Eingange der Bogislawstraße käuflich zu erwerben, abzubrechen und nach Zukauf vom benachbarten Grundstücke hier ein Verwaltungsgebäude zu errichten. Dem Beschlusse folgte rasch die That. Nach den Plänen der Architekten Ludwig und Hülßner ward der Neubau 1886 aufgeführt und am 20. [korrekt: 30.] October seiner Bestimmung übergeben.“ [Quelle #3]
Aus heutiger Sicht wird sich mancher wundern, dass nur vier Jahre vor der Eingemeindung Volkmarsdorfs nach Leipzig noch ein Rathaus projektiert und gebaut wurde. Man kann das nur so erklären, dass in dieser Zeit häufig Leipziger Eingemeindungspläne zur Sprache kamen, sich dann aber doch meistens nichts ereignet hat. Eventuelle Parallelen zur heutigen Leipziger Verwaltungspraxis sind selbstverständlich rein zufällig … 😉 😉 😉
Über den Rathausbau in Volkmarsdorf erschien sogar in der Deutsche Bauzeitung im Jahr 1887 ein Beitrag der Architekten Ludwig & Hülßner unter dem Titel ,,Rathhaus für die Gemeinde Volkmarsdorf bei Leipzig“. Darin heißt es:
,,Nachdem das Bedürfniss nicht mehr abzuweisen war, für die bisher in einigen Räumen eines Schulhauses untergebrachte Gemeinde – Verwaltung einen neuen Sitz zu schaffen, hat man sich entschlossen, zu diesem Zweck ein eigenes Gebäude aufzuführen. Den Entwurf hierzu lieferten die Leipziger Architekten Ludwig & Hülßner, denen auch die Leitung der Ausführung übertragen wurde; letztere begann im April 1886 und wurde – fast ausschließlich durch im Orte selbst ansässige Unternehmer — so schnell gefördert, dass bereits am 30. Oktober 1886 die Einweihung des neuen Rathhauses erfolgen konnte.
Das am Bergplatze gelegene Gebäude reiht als Eckhaus den Wohnhäusern des Ortes sich an und geht in d. Verhältnissen über die aus neuerer Zeit stammenden Wohnhäuser kaum hinaus. Als öffentliches Gebäude macht es sich jedoch, nicht nur durch seine Ausführung in echten Baustoffen, (Elbsandstein und Ullersdorfer Verblendziegel) kenntlich, sondern auch durch den Schmuck, der ihm durch das Erkerthürmchen an der Ecke, sowie das anschließende Giebelrisalith gegeben ist.“
Über den Sitzungssaal an der Kirch-(Liebmann-)Straßenseite war im Dachbereich architektonisch ein Risalit-Bogen eingefügt worden, der offenbar im 2. Weltkrieg beschädigt und zu DDR-Zeiten nur notdürftig ,,begradigt“ worden war (siehe untenstehende Abbildung links). Im Zuge der Sanierung wurde dieser Giebelteil wieder eingefügt. Aber, wie man auf dem rechten Bild sehen kann: diesmal hat man am Erkertürmchen gespart – es wurde nicht originalgetreu wieder hergestellt.
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weiter hieß es in der Bauzeitung:
,,Die klare Grundrissordnung, bei welcher, trotz des beschränkten Bauplatzes und der geringen Größe des Hofes, doch alle Räume ausreichend mit Luft und Licht versorgt werden, ist aus den Abbildungen genügend ersichtlich. Zur Erläuterung sei lediglich bemerkt, dass der kleinere zu Ausschuss-Sitzungen bestimmte Saal im Hauptgeschoss zugleich für die Zwecke des Standesamtes benutzt wird.
Die Baukosten haben nicht mehr als 42.700 M. betragen…“ [Quelle #4]
Und dann war es am 30. Oktober 1886 so weit:
Zur Einweihung des Rathauses von Volkmarsdorf erschien am 31. Oktober 1886 folgender Artikel in der Tagespresse
(im Leipziger Tageblatt und Anzeiger, allerdings nicht gerade auf der Titelseite, sondern weiter hinten auf Seite 27):
,,Volkmarsdorf, 30. October.
Die feierliche Einweihung des neuerbauten Rathhauses fand heute Nachmittag 2 Uhr statt. Zu diesem Zwecke versammelten sich in dem bisherigen Sitzungszimmer im Schulgebäude die Vertreter der Gemeinde, die Mitglieder des Schulvorstandes, das Lehrercollegium, die Geistlichkeit, die Meister von den Gewerken, die den Bau ausführten, die Bureaubeamten und der Vertreter der königl. Kreishauptmannschaft, Herr Regierungsrath Dr. von Loeden. Vor der zahlreichen Ferstversammlung hielt Herr Gemeindevorstand Lehmann eine kurze Rede zum Abschied von den liebgewordenen Räumen, alsdann ordnete sich der Zug nach dem neuen Verwaltungsgebäude. Dort angekommen, übergab Herr Architekt Ludwig unter den herzlichen Wünschen für das fernere Gedeihen der Gemeinde Herrn Gemeindevorstand Lehmann den Schlüssel zu Haupteingang.
Hierauf begab sich die ansehnliche Versammlung nach dem in der ersten Etage gelegenen Sitzungssaale. Hier ergriff abermals Herr Gemeindevorstand Lehmann das Wort zu einer längeren Ansprache an die Festversammlung. Er gab in gedrängter Weise die Geschichte des Baues, führte nochmals die Nothwendigkeit desselben vor die Augen der Versammlung und weihte den Neubau als eine Stätte des Rechts, der Wohlfahrt und des Friedens für den Ort.
Hieran schloß sich die Rede des Vertreters der königlichen Amtshauptmannschaft, Herrn Regierungsrath Dr. von Loeden. Zunächst gab er seiner Freude darüber Ausdruck, daß der Bau in so schöner und praktischer Weise zur Ausführung gelangt sei. Anschließend an Goethe’s Wort ,daß die beste Stütze des Staates ein braver Bürger sei‘, äußerte er den Wunsch, daß es mehr und mehr gelingen möge, eine brave Bürgerschaft hier ansässig zu machen, die zu allen Zeiten bereit sei, das Wohl der Gemeinde und des Staates zu fördern.
Nach dieser trefflichen Rede trat die Festversammlung einen Rundgang durch die Räume des Rathhauses an, und man war allgemein von der praktischen Anlage aller Räumlichkeiten überrascht und das um so mehr, als doch der zur Verfügung stehende Bauplatz ein ziemlich beschränkter war. Nach der Besichtigung vereinigten sich die Festtheilnehmer zu einem gemütlichen Beisammensein in den ,,deutschen Reichshallen“ und Abends 6 Uhr fand daselbst eine Festtafel statt.“ [Quelle #5]
Anmerkungen zum Rathaus-Gebäude
Zu den oberen Etagen:
– im 1. Obergeschoss befanden sich der Sitzungssaal des Rathauses und ein kleinerer Saal, der auch als Standesamt-Stube benutzt wurde (folgendes Bild rechts) und
– im 2. Obergeschoss residierte in der Amts-Wohnung nun für reichliche drei Jahre der Gemeindevorstand und Standesbeamte Ernst Lehmann.
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und zu den unteren Etagen:
– im Hohen Erdgeschoss befanden sich Amts- und Kassenzimmer, ein Raum für den Vollstreckungsbeamten sowie Registratur- und Archivräume
– im Sockelgeschoss befanden sich neben den Heizungskellern auch ein Wasch- und ein Wirthskeller und natürlich das Wachlocal mit einer Arrestzelle. Die Lage vom Eingang zum früheren Wachlokal (Skizze links) konnte man im September 2012 (Fotoausschnitt unten rechts) gerade noch erahnen.
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Anmerkungen zur Nutzung des Gebäudes
– 1886 bis 1890 Besitzer Gemeinde Volkmarsdorf,
Nutzung als Rathaus,
Adresse: Kirchweg / Kirchstr. 2
– 1891 Besitzer Rat der Stadt Leipzig,
Nutzer: XV. Polizeiwache bis 1910,
Schulgeldstelle bis 1915,
Zweiggeschäftsstelle Stadtsteueramt Leipzig
und stationärer örtlicher Feuermelder
Adresse: Kirchstr. 42
– ab 1922 Nutzer: Steuerhebestelle 6 und 14 (bis 11929)
– ab 1934 Adresse: Alfred-Kindler-Str. 42
– ab 1945 zuerst wieder Kirchstr. und ab August 1945 Hermann-Liebmann-Str. 42
Nutzer: VP- (Volkspolizei-) Revier Leipzig Nordost mit Arrestzellen im Kellerbereich bis zur Wende, siehe Beitrag: Filmriss in der Hildegardstraße, 1984
[Quellen #6 und #7]
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Die beiden oberen Bilder zeigen den heute grünen (und namenlosen Berg-) Platz mit dem Eckhaus Liebmann- /Bogislawstr. vor und nach der Sanierung. Sanierungsabschluss war Ende 2015 [Quelle #8].
Danach wurden die lediglich fünf hochwertig ausgestattete Wohnungen mit Parkettboden im Flur und Wohnraum, Wohnküche mit Balkonzugang und Tageslicht-Designbad mit Wanne, edel gefliest im denkmalsgeschützten Mehrfamilienhaus vermarktet. In unproblematischem und gefestigtem sozialen Umfeld. So heißt es jedenfalls in den Immobilienanzeigen von immoscout24 oder mapio.net
Kostenpunkt z.B. für 4 Zimmer mit 142 m² etwa 1.200 € – und scheinbar ist [Beobachtung im April 2020) auch alles vermietet.
Literatur- und Quellenverzeichnis:
- Quelle #1: Liste der Kulturdenkmale Volkmarsdorf, Hermann-Liebmann-Straße 42
- Quelle #2: Orthographische Konferenz von 1901, Wikipedia
- Quelle #3: Leipziger Tageblatt und Anzeiger, 26. Juli 1901, S. 12, Oswald Voigt: Volkmarsdorf
- Quelle #4: Deutsche Bauzeitung 1887, S. 253: Rathhaus für die Gemeinde Volkmarsdorf bei Leipzig.
- Quelle #5: Leipziger Tageblatt und Anzeiger, 31. Oktober 1886 S.27 Die Einweihung des Rathhauses in Volkmarsdorf
- Quelle #6: Adreßbuch für die Ostvorstadtorte Leipzigs Volkmarsdorf, Neuschönefeld, Neustadt … 1888, Kirchweg 2
- Quelle #7: Leipziger Adreß-Buch Band 84, 1905, nachgetragen bis Herbst 1904, online über SLUB sowie weitere Adressbücher aus dem Zeitraum 1902 bis zum Jahr 1943
- Quelle #8: DAF Projektkarte Leipzig/Halle, Sanierung des ehemaligen Volkmarsdorfer Rathauses (jetzt MFH), Hermann-Liebmann-Straße 42
- Bildmaterial (Ansichtskarte, um 1905 …1910 und Foto vom Sept. 2012) mit dem Volkmarsdorfer Rathaus, vielen Dan für die Kopie und deren Nutzungsrechte für diesen Beitrag an Frank Heinrich und Bert Hähne, vielen Dank für die Kopie und deren Nutzung hier im Beitrag