Rauhnacht-Gedanken (2)

Bekanntlich sind viele der früheren Orte und Ortsteile im Leipziger Osten schon über 700 Jahre alt, zum Beispiel:
Volkmarsdorf wurde im Jahr 1270/71 und
Reudnitz bereits im Jahr 1248 erstmals erwähnt.
Die fiktive Zeitangabe der Ersterwähnung beantwortet aber nicht die ursächliche Frage:
seit wann und wo hier die ersten Kolonisten siedelten?
Speziell zur Siedlungsgeschichte von Volkmarsdorf und Reudnitz gibt es heute kaum gesicherte Veröffentlichungen.

Folgt mir doch mal ein weiteres Stück in die Leipziger Vorort-Geschichte …

Im zweiten Teil zur Siedlungsgeschichte im Leipziger Osten soll es um Reudnitz gehen. Wie bereits im ersten Teil über Volkmarsdorf wird sich dabei zeigen, dass allein aus den wenigen Standard-Quellen wiederum keine eindeutige Aussage zur ursprünglichen Besiedlung möglich ist. Das ist aus verschiedenen Gründen eine schwierige Sache.
Deshalb habe ich versucht die Aussagen aus den verschiedenen Quellen abzuwägen und vielleicht auch ein Stück Rauhnacht-Fantasie einzubringen, um zu besseren Einblicken zu gelangen.

2. Reudnitz

Zunächst zu zwei wichtigen und heute etwas verwirrenden Ortsbestimmungen.

2.1 Wo liegt heute eigentlich Reudnitz?

Na das ist doch klar, werdet Ihr sagen: da gibt’s im Leipziger Osten doch den Ortsteil Reudnitz-Thonberg mit aktuell 22.626 Einwohnern (2019) auf einer Fläche von 203 ha. [Quelle #1]

Das ist aber auf den zweiten Blick nicht ganz so klar und wird auch im Standardwerk zur landeskundlichen Bestandsaufnahme kritisiert:
,Seit der Verwaltungsneugliederung 1992 gehört das Gebiet um die Kohlgartenstraße [die bis 1842 die alte Dorfstraße von Reudnitz war] zu Neuschönefeld, damit liegt der Kern der slawischen Dorfanlage Reudnitz außerhalb der neuen Ortsteilgrenze.
Die leicht gekrümmte Straßenführung erinnert an die langgestreckte Form des einstigen Gassendorfes am westlichen Auenrand der Östlichen Rietzschke, die hier bis zur Verrohrung Ende des 19. Jh. in der unbebauten Aue floss und die Gemarkungsgrenze zu Volkmarsdorf bildete.
Bauzeugen des Dorfes existieren nicht mehr.‘
[Quelle #2, Seite 301]
Unter Verwendung eines aktuellen Karten-Auszugs aus Openstreetmap habe ich im Folgenden versucht die Zuordnung der heutigen Ortsteile und historischen Gemeinden im Leipziger Osten darzustellen:

aktuelle Ortsteile (1992): mit roter Linie umgrenzte Gebiete
Reudnitz-Thonberg südlich der Dresdner Straße, begrenzt im Westen bis Ludwig-Erhard-Str. und im Osten bis zur Breiten Str. und Anmerkung: Reudnitz-Thonberg hat keine Ortsteilgrenze zu Volkmarsdorf
Neustadt-Neuschönefeld nördlich der Dresdner Str., begrenzt im Westen etwa bis Ludwig-Erhard-Str. und im Osten bis Wurzner Str. bzw. Hermann-Liebmann-Str.
historische Gemeinde-Gemarkungen (um 1900): mit blauer Line umgrenzte Gebiete
– Reudnitz reichte früher im Norden bis zum Flüßchen Rietzschke, das alte Gemeindezentrum lag früher nördlich der heutigen Dresdner Str. und gehört damit heute zu Neustadt-Neuschönefeld
– Neustadt-Neuschönefeld hat sich im Süden um die früheren Gemeindezentren von Reudnitz und Volkmarsdorf erweitert
– Anger hat die stadtwärtigen Grundstücke an der Breiten Str. an Reudnitz-Thonberg abgegeben
alte Ortsteile von Reudnitz – graue Schrift mit Kohlgart, Tützschendorf und evtl. weiterer (siehe im Text unter 2.2)
Nummern (kleinere Gebiete)
1 Volkmarsdorfer Straßenhäuser
2 Neusellerhausen (beide heute zum Ortsteil Volkmarsdorf)
3 Neuschönefeld (schließt sich im Norden an)
4 Leipziger Ortsteil Zentrum-Südost
5 frühere Siedlung ,aufn Anger‘ mit zwei Fischteichen (hier als Kreise)

Soweit für ,heute‘ alles klar?

Beim Blick in die frühere Geschichte der Ortsteile und Gemeinden gibt es aber auch noch viele offene bzw. nicht ausreichend geklärte Fragen – schaunmermal, die Rauhnächte sind bald vorbei …

2.2 Wo lag das ursprüngliche Reudnitz?

Im Standardwerk zur landeskundlichen Bestandsaufnahme heißt es zu Reudnitz:
,Der Ortsname Reudnitz (1248 Rudenitz iuxta Lipzc) bezeichnet eine Siedlung, an der Rasenstein anstand‘ (aus dem slawischen Wort ,ruda‘ – für Raseneisenerz, rotbraune Eisenerde). [Quelle #2, Seite 301f]

Fund 3: Die genannte Ersterwähnung stammt aus dem Urkundenbuch der Stadt Leipzig – aus einem Dokument, in dem Markgraf von Meißen Heinrich III. (1216-1288) dem Benediktinerinnen-Kloster St. Georg in Leipzig dreieinhalb Hufen Land sowie den Fischteich von „Rudeniz zueignete. [Quelle #3, CDS II 10, Seite 7] [Zu diesem ominösen Fischteich komme ich noch, bitte merken!]
Anmerkung: Raseneisenstein kommt als Sediment aus Sand, Ton und Schluff z.B. in feuchten, sumpfigen Niederungsgebieten vor und kam damit wahrscheinlich auch im früheren Rietzschke-Auengebiet vor. [Quellen #2 und #3]

Offenbar gab es im früheren Gemeindegebiet von Reudnitz verschiedene Ortsteile. In der Literatur werden zumindest die Ortsteile Kohlgart, Tützschendorf und (Rudenicz) aufn Anger genannt, mitunter wird auch eine Lagebeschreibung eventueller Vorsiedlungen angegeben. Auf nachstehender Kartenskizze mit den Ortsbezeichnungen aus dem Sächsischen Meilenplan von 1802 sind diese Ortsteile enthalten:

mit OT Kohlgart(en), Tietschendorf (Tützschendorf) und (aufn) Anger

Kohlgart: Der Ortsteil Reitnitz Kohlgart bzw. Kohlgart(en) wird im Jahr 1498 in einem Schreiben von Cunz Meiseberg an seinen Vetter Leonard Meiseberg erstmals erwähnt. [Quellen #5 und #6] Dieser Ortsteil umfasst im Wesentlichen Grundstücke an der heutigen Kohlgartenstraße.

Tützschendorf: ,Von dem … anschließenden, hochmittelalterlichen Sackgassendorf Tützschendorf (1525) … ist der Grundriss teilweise in der Kapellenstraße erhalten. Am gegenüberliegenden Ufer [von Volkmarsdorf] lag der Kern des schon im 7./8. Jh. angelegten slawischen Dorfes Reudnitz.
Der Name Reudnitz ging später auf das deutsche Dorf über.‘
[Quellen #2, S.269/302 und #5]

Fund 4: (Rudenicz) aufn Anger: in den Urkunden zum Benediktinerinnen-Kloster St. Georg in Leipzig gibt es ein zwischen 1471 und 1481 aufgesetztes Schreiben mit folgendem wörtlichen Inhalt:
,Villa Alde Rudenicz [b)] daz ist gancz der jungfrawen …‘ mit der Anmerkung b) ,Andrer Name für den auch Rudenicz aufn Anger, R. zur lehen genannten Kohlgarten Anger‘ [Quelle #3, CDS II 10, Seite 127, Zeile 18/19]

Vermutung: Dem Text dieser Urkunde kann man entnehmen, dass damals das ganze Dorf ,Altes Reudnitz‘ (Alde Rudenicz) dem Jungfrauenkloster der Benediktinerinnen gehörte, mit den dreieinhalb Hufen Land sowie den Fischteich von „Rudeniz“, siehe oben Fund 3 aus dem Jahr 1248. Der dort genannte Fischteich könnte den späteren ,Rat(h)steichen‘ in Anger entsprechen. Die spätere Ortsbezeichnung Anger entstand erst zur Reformationszeit, als der gesamte Ort mit der Bezeichnung ,Anger‘ nach der Auflösung des Georg-Klosters an die Stadt überging.[siehe auch Quelle #7]
Weitere Belege, die diese Vermutungen stützen, konnte ich bisher nicht finden.

vorläufiges Fazit

Die Leipziger Vororte von Volkmarsdorf und Reudnitz haben beide slawische Siedlungswurzeln.
Obwohl es im Leipziger Osten an der Rietzschke slawenzeitliche Siedlungsfunde gegeben hat, ist bis heute nicht vollkommen geklärt, wo diese ursprünglichen Siedlungen exakt gelegen haben und wie groß sie waren.
Möglicherweise entstanden die Orte als kleine, geografisch fast gegenüberliegende, Siedlungen schon vor über 1.000 Jahren an der (östlichen) Rietzschke zwischen den ,Fischteichen‘ von Anger und dem ,Berg‘ von Volkmarsdorf.

Rückmeldungen und Stellungnahmen sind ausdrücklich erwünscht!

Nachtrag

Stadtplanausschnitt (1985) mit eingefügten alten Ortslagen

als Ergänzung zu Ersterwähnungen von ausgewählten Orten und Ortsteilen im Leipziger Osten [Quellen #2 bis #4]:
Volkmarsdorf als Lehngut und später als Vorwerk Volcwartisdorf im Jahr 1270/71
Schönefeld als Schonenuelt im Jahr 1270 [allerdings nicht ganz im Osten Leipzigs]
Reudnitz als Rudeniz im Jahr 1248
Sellerhausen als Selderoysen im Jahr 1335
Crottendorf als Cratendorf im Jahr 1350
Kohlgarten als Reitnicz Kohlgart im Jahr 1497
Tützschendorf als Tutzschendorf, der eine Kohlgarten im Jahr 1525
Anger als (Rudenicz) aufn Anger im Jahr 1535
Neuschönefeld mit dem ersten Haus im Jahr 1838
Neustadt mit dem ersten Haus im Jahr 1866

grün – Kohlgartendörfer, rot – jüngere Ortsgründungen


Literatur- und Quellenverzeichnis:

  • Quelle #1: Stadt Leipzig, Statistik Reudnitz-Thonberg, online
  • Quelle #2: Vera Denzer, Andreas Dix, Haik Thomas Porada (Hg.): Leipzig. Eine landeskundliche Bestandsaufnahme im Raum Leipzig. Böhlau: Köln/Weimar/Wien 2015, siehe: Abschnitt Ur- und Frühgeschichte (S. 55ff), Einzeldarstellungen F2 Volkmarsdorf (S. 269ff), F3 Anger Crottendorf (S. 272ff) und G1 Reudnitz
  • Quelle #3: verschiedene Wikipedia-Einträge unter Leipzig-Reudnitz, Raseneisenstein
  • Quelle #4: Codex Diplomaticus Saxoniae Regiae, Otto Posse und H. Ermisch, Urkundenbuch der Stadt Leipzig, Leipzig Giesecke & Devrient 1894, online
  • Quelle #5: Historisches Ortsnamenbuch von Sachsen / Band 2 M – Z, Herausgeber Ernst Eichler, Hans Walther, Akademie Verlag Berlin 2001, online SLUB Dresden
  • Quelle #6: Otto Moser: Chronik von Reudnitz, Verlag Max Hoffmann Leipzig-Reudnitz 1890, online SLUB Dresden
  • Quelle #7: Bruno Markgraf: Leipzig-Ost in ältester Zeit, aus Schriften des Vereins für die Geschichte Leipzigs, Band IX, Johannes Wörner’s Verlag Leipzig, 1909, S. 20 – 24 – Bruno Markgraf, Pastor an der St. Marcuskirche, Reudnitz
  • Stadtpläne, Kartenausschnitte, Skizzen und Fotos aus meinem Bestand
  • eigene Blogbeiträge zur Geschichte von Reudnitz:
    über die Rietzschke, Kohl, Goethe und Napoleon (November 2014),
    unbekanntes Reudnitz (September 2015)

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