höllisches Inferno

Zwischen der Luther- und der Kohlgartenstraße im Leipziger Osten gab es früher ein richtiges kleines Gewerbegebiet mit vielen Fabrikgebäuden und interessanten Erzeugnissen.

Ihr fragt: warum ist davon heute nichts mehr zu sehen?

Dem möchte ich in diesem Beitrag nachgehen, der auf meinem Blog am 4. Dezember, früh um 3:50 Uhr freigeschaltet wird. Im Jahr 1943 begann um diese Zeit das Inferno.
Ein Zeitzeuge, der in dieser Nacht vor Ort in der Firma August Fomm arbeitete, berichtet über das Geschehen …

In der Nacht vom 3. zum 4. Dezember 1943 wurde Leipzig bombardiert. Hier auf dem Plan links ein Ausschnitt des Leipziger Ostens mit der Lage der Maschinen-Fabrik von August Fomm zwischen der Luther- und der Kohlgartenstraße.

Werkmeister Rolf Heering war in dieser Nacht in der Maschinenfabrik August Fomm zur Schicht eingeteilt. Er hat über diese Nacht und die darauffolgenden Tage folgendes berichtet:

Die Firma ist über uns abgebrannt…
Ich hatte die Schicht. Es war kurz vor 4 Uhr früh. Wir dachten, wir müssen gleich los.
Da gingen noch mal die Luftschutzsirenen. Weil es früh um 4 Uhr war, hat man das alles nicht so ernst genommen. Alarm wie immer.

Wir hatten eine riesengroße Halle mit Sheddach. Also Glas-Dreieckfenster. Diese aufgebrochenen Dächer mit aufgesetzten Dreieckfenstern, sogenannte Sheddächer. Und in aller Ruhe – ich hatte mein Fahrrad draußen stehen … Wir haben unseren Kram zusammengepackt, wie das immer der Fall war.
Plötzlich wurde die ganze Halle, das ganze Dach wurde hell. Dann begann ein Summen und Singen und Pfeifen – so etwas habe ich in meinem Leben noch nicht gehört in dem Umfang. Die ganze Luft schwang und da hörten wir die ersten schweren Einschläge. Dann hatten wir es eilig. Wir gingen vor in den Luftschutzraum …
Da ging das los. Die Luftschutzräume waren doch alle schon vorbereitet für diese Dinge. Da waren noch Bogen eingezogen worden. Da waren Stahlblendenstücke, dicke Stahltüren …
Da war alles luftdicht gemacht. Da sind wir dann rein in die Räume. Da ging das Theater los.


Wir waren unten im Keller, das ist das sogenannte Kellergeschoß. Weil dort das Wasser ziemlich hoch war. Man hatte nicht tief gebaut. Da kamen die ersten Luftminen auf unser Betriebsgelände.
Da fegte es über uns zusammen.
Es war ein höllisches Inferno. Sämtliche Fenster und Türen krachten da durch diese Luftminen aus den Fugen und oben schoben sich Tische, Stühle – was sich irgendwie bewegte schob sich durch die riesige Druckwelle zusammen. Und damit war natürlich die Freiheit gegeben für die Brandentwicklung.
Sie haben wahnsinnige Mengen von Brandbomben geworfen. Das ganze Viertel stand in Flammen, und wir saßen in dem Keller darunter. Das ist kaum vorstellbar. Wir hatten ein Vordach. An der einzigen Stelle, wo wir noch raus konnten. Da wollten wir mal rausgucken. Da waren die brennenden Balken vor die Türe gefallen. Da konnten wir nicht mal raus auf der Seite.
Da denkt man nur, hoffentlich kriegst du so ein Ding nicht direkt auf den Kopf. Das war aber auf dem Gelände in so unmittelbarer Nähe. Da haben wir zwei oder drei Luftminen gehabt. Das waren Dinger, die heben Dächer weg und alles. Da platzt die Lunge, wenn sie in unmittelbarer Nähe sind – solche Druckwellen sind das.
Die Belgier – ich hatte die Belgier in dieser Nacht – die haben sich in den einen Raum verzogen. Wir waren in dem anderen Raum. Hatten alles dicht gemacht. Dann sind wir am Ende – ich wollte mal raus, mal sehen, nachdem der Angriff vorbei war, wie wir wieder rauskommen … Da war irgendwo dort eine erhöhte Treppe, die wir noch benutzen konnten.

Die ganze Bude brannte von oben bis unten. Über uns war ein Büro und über dem Büro waren Hausmeisterwohnungen. Die ganze Etage brannte oben. Da haben wir gemacht, das wir aus dem Raum rauskamen.
Praktisch sind nur die Luftschutzkeller übrig geblieben zu ebener Erde. Alles andere ist ausgebrannt, und durch diese ungeheure Hitze haben die Mauern derartig gelitten – nach zwei, drei Tagen sind die Mauern eingestürzt. Auf den Keller. Da hat es auch noch einen Keller durchgeschlagen. Dann hat die Firma unter dem Schuttberg angefangen, sich wieder zu sammeln.

Da haben wir vier, sechs Wochen keine Heizung gebraucht, weil der glühende Schutt über der Kellerdecke lag, die noch intakt war. In den ersten Wochen konnten wir es vor Hitze kaum aushalten, und dann haben wir die Türen unten zugehalten, dann Öfen organisiert, nachdem die Glut nach und nach keine Leistung mehr gab. Öfen organisiert. Auf dem gleichen Grundstück war eine Firma, die hieß Wabbler, und Wabbler handelte Öfen. Die hatte es gleich mit erwischt. Ganz klar. Das ganze Viertel war ja klar gebombt. Da haben wir von denen ein paar alte ausgebombte Öfen gekriegt. Die haben wir da unten in die Büros reingesteckt. Durch die Fenster ein Rohr. Daß man da wenigstens noch den Verwaltungskram … Das muß ja dann weitergehen. [Quelle #1]

Anmerkungen:

1. Fremdarbeiter bei Fomm.
Mit Beginn des Krieges nahm auch die Firma August Fomm die Rüstungsproduktion auf, um weiter bestehen zu können. Infolge des Abzugs männlicher Arbeitskräfte aus der Wirtschaft kam es zu einem Mangel an Arbeitskräften. Neben Kriegsgefangenen wurden auch Fremdarbeiter für die deutsche Wirtschaft angeworben. So arbeiteten auch bei Fomm Holländer, Belgier und Italiener als Fremdarbeiter. Etwa 10 Mann pro Schicht – bei Zweischichtbetrieb bedeutete dies, dass ungefähr 20 Fremdarbeiter angestellt wurden.
Die Fremdarbeiter wurden nach der Zerstörung nicht weiter im Betrieb beschäftigt. [Quelle #2]

2. Zerstörungen und Schäden bei Fomm.
Aus einem Formular zum Antrag auf Ersatzleistungen für Sachschäden an beweglichen Gegenständen gemäß der Kriegssachschädenverordnung vom 30. November 1940 der Firma Fomm ist Folgendes zu entnehmen:
Beim Angriff der Feindflieger am 4.12.1943 wurde die mir gehörenden Betriebs- und Werkzeugmaschinen, Motoren, Messwerkzeuge, Bearbeitungswerkzeuge usw. … fast restlos zerstört, zu einem kleinen Teile beschädigt.
Der Schaden wurde auf diesem Formular auf vorerst 596.277,25 Reichsmark beziffert. [Quelle #3]

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Ruinen-Blick zur Lutherstraße und in die Werkhallen. Winter 1944 [Quelle #4]

Der italienische Fremdarbeiter Calisto Tolomelli wird ebenfalls in einer Meldung an das Kriegsschädenamt Leipzig erwähnt, weil er in seiner Wohnung in der nahegelegenen Reudnitzer Str. 10 ausgebombt wurde und ihm als Ersthilfe Bekleidungsstücke im Wert von 147,25 Reichsmark zur Verfügung gestellt wurden (Arbeitsanzug, blau, Regenmantel, Strickjacke, Unterwäsche, Strümpfe usw.). [Quelle #3]

3. Zerstörungen im Leipziger Osten.
Nicht nur das Werksgelände der Maschinenfabrik August Fomm, sondern alle auf dem Areal zwischen der Luther- und der Kohlgartenstraße befindlichen Fabriken und die angrenzenden Wohngebiete, wurden in dieser Sonnabend-Nacht fast vollständig zerstört. Ein großes Trümmerfeld im Leipziger Osten, dem einstigen Zentrum des deutschen Druckerei- und Verlagswesens.

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Blick vom Werkstor in Richtung Stadt [Quelle #5] / blauer Pfeil rechts in Schadenskarte 1945 (zerstörter Bereich – schwarz)

Auf dem linken Foto mit Blick Richtung Südwesten sind die Ruinen der Leipziger Ostvorstadt zu sehen, die sich unmittelbar vor der Einfahrt zur Firma Fomm an der Kohlgartenstraße befanden. Auf dem rechts abgebildetem Teil der Leipziger Schadenskarte habe ich mit einem blauen Pfeil den Kamerablick eingezeichnet. Von rechts nach links gesehen: Reudnitzer Straße / Lange Straße / Kohlgartenstraße.

Die Tageszeitungen erschienen in Leipzig erst wieder ab dem 7. Dezember 1943 und berichten auch von Zerstörungen und Stillstand in der Stadt, auch beim örtlichen Personennahverkehr …

4. Straßenbahnverkehr im Leipziger Osten.

Trotz einer beschwichtigend wirkenden Zeitungsnotiz der LNN vom 7. Dezember 1943 zum Straßenbahnverkehr:

Die Linien können noch nicht alle in der vollen Stärke gefahren werden.

siehe Zeitungsausschnitt rechts, kam der Straßenbahnverkehr in Leipzig nur sehr schleppend wieder in Gang. Der Leipziger Osten konnte bis Ende 1943 noch nicht wieder befahren werden, nur zwischen Taucha und der Eisenbahnstraße konnte vorerst ein Notverkehr eingerichtet werden.

5. Wiederaufbau

Was die „Nachgeborenen“ immer wieder in Erstaunen versetzt ist wohl die Tatsache, dass sofort nach der fast vollständigen Zerstörung ein neuer Anfang gewagt wurde.

Aus den Trümmern wachst der „neue alte“ Betrieb. Zuerst wird aufgeräumt, die Versorgung mit Wasser und Strom wieder hergestellt, noch Verwertbares beiseite gelegt, Ziegel werden geputzt. Eine Knochenarbeit für geringen Lohn. Sie wird von den wenigen noch verbliebenen Arbeitern ausgeführt (Die Fremdarbeiter wurden nach der Zerstörung nicht weiter im Betrieb beschäftigt.). Aber der Krieg ist noch nicht zu Ende. Er frisst weiterhin Menschen und Material. Fast jeder Betrieb ist in die Rüstungsproduktion eingebunden, die auf Hochtouren läuft. „Fomm“ wird nach Tragnitz bei Leisnig ausgelagert. Dort produziert man weiterhin Granaten. Die Maschinen hierfür sind teilweise neu, meist aber sind es noch die alten, aus den Trümmern geborgenen und wieder reparierten. [Quelle #6]


Literatur- und Quellenangaben

Literatur

Plan der Stadt Leipzig, 1929 (Stand Juli 1928) aus meinem Archiv und Schadensplan von Leipzig 1943 aus dem Kartenforum der SLUB Dresden

Ausschnitte und Informationen aus Tageszeitungen der Leipziger Neueste Nachrichten und Handelszeitung vom Dezember 1943, Staatsbibliothek Berlin, online

Quellen

Quelle #1: Ragnit Michalicka: Die Maschinenfabrik August Fomm, Dokumentation und Rekonstruktion von Betriebsgeschichte mittels noch vorhandener Quellen, Diplomarbeit an der HTWK Leipzig, Studiengang Museologie, August 1995, S. 159/160.

Quelle #2: Dsgl., S. 159, 161

Quelle #3: Stadtarchiv Leipzig, Amt für Kriegssachschäden

  • Nr. 181 „August Fomm GmbH, Maschinenfabrik, Leipzig„, 1944 – 1945
    Enthält: Rüstungsbetrieb. – Schäden der Fabrik, Kohlgartenstr. 5-9, am 4.12.1943, Bl. 51: Antrag Fa. August Fomm auf Ersatzleistungen für Sachschäden, 10.04.1945.
  • Nr. 1415 – 1416 „August Fomm GmbH, Maschinenfabrik – Schadensfälle von Fremdarbeitern in Leipziger Betrieben„, Bl. 52: italienischer Zivilarbeiter Calisto Tolomelli, bezüglich Fliegerangriff vom 04.12.1943

Quelle #3: Ragnit Michalicka, Diplomarbeit HTWK (siehe oben), Bilder Dok.-Nr. 2.2.1./31 zerstörtes Fabrikgebäude und Dok.-Nr. 2.2.1./32 große Montagehalle mit zerstörter Sheddachkonstruktion (links Horizontalbohrwerk), Anfang 1945

Quelle #5: Dsgl., Bild Dok.-Nr. 2.2.1./21 Eingangsbereich Kohlgartenstraße, Anfang 1945

Quelle #6: Dsgl., S. 160/161

persönliche Mitteilungen

Vielen Dank an Ragnit Michalicka, für den gemeinsamen Rundgang anläßlich der Leipziger Tage der Industriekultur im September dieses Jahres vor Ort an der Lutherstraße, dass ich Ausschnitte ihrer Diplomarbeit, den Augenzeugenbericht von Rolf Heering und die hier im Beitrag gezeigten Fotos verwenden darf.


Kommentare:

e-Mail Hans J.., 05.12.2021 um 14:13:
Es berührt mich ungemein, die Schilderung der Ereignisse von damals. Vor allem auch deshalb, weil ich Herrn Heering persönlich erlebt habe. Er war zu meiner Zeit der gestandene Produktionsleiter im „Glaskasten“ über der Produktionshalle.
Ich hatte ihn als dominierenden Praktiker alten Schlages kennengelernt.

2 Gedanken zu “höllisches Inferno

  1. Hallo,
    im folgenden Satz soll es bestimmt Dezember heissen …
    Die Tageszeitungen erschienen in Leipzig erst wieder ab dem 7. November 1943
    MfG, L. Hentsch

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