Montagsdemo, 2. Oktober ’89

89.11_27q2. Oktober 1989:
Bis zu 20 000 Demonstranten in Leipzig

Leipzig (dpa).      Nach dem Friedensgebet in der Leipziger Nikolaikirche demonstrieren bis zu 20 000 Menschen für Reformen in der DDR. Sie fordern «Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit» und rufen unter anderem: «Wir bleiben hier» und «Gorbi, Gorbi». Bei Auseinandersetzungen mit Sicherheitskräften gibt es Verletzte. Mehrere Demonstranten werden festgenommen.

Das war der Anfang vom Ende der DDR, sagen heute manche Historiker.

Leipzig, am 2. Oktober, Nachmittag
Im Auftrag meiner Firma Nachrichtenelektronik Leipzig hatte ich an diesem Montagnachmittag dienstlich bei der Firma Schuhchemie Mölkau, östlich von Leipzig, zu tun.
schuhchemie mölkauDort war eine Messreihe von Zugscherproben neuer Klebverbindungen für die Bestückung elektronischer Bauelemente aufzunehmen. Mit der Unterstützung der Kollegen D. und G. von Schuhchemie ging das im Messlabor auch zügig voran.

Gegen 15 Uhr war ich in Mölkau fertig und fuhr mit dem LVB-Bus der Linie M zurück nach Leipzig. Kurz vor der Endstelle am Johannisplatz fuhr der Bus auf dem Täubchenweg im Leipziger Osten am VP-Revier Grenzstraße vorbei [VP – Volkspolizei]. Dort standen mehrere W50-LKW’s der Bereitschaftspolizei und ringsum war geschäftiges Treiben zu sehen. Beim Vorbeifahren konnten wir vom Bus aus laute Kommandorufe hören und im Laufschritt umhereilende uniformierten Bereitschaftspolizisten sehen. Ein Teil der Uniformierten mit Schlagstöcken und auch ein paar mit großen schwarzen Schnautzerhunden kletterten gerade auf einen der bereitstehenden LWK’s.

War heute ein Fußballspiel angesagt – zum Montag?
Ohhh, Montag (!) … sollte es etwa um die Montagsdemos an der Nikolaikirche gehen?

T6A2LeipzigNachmittags hatte ich bis etwa 19 Uhr in der Käthe-Kollwitz-Straße zu tun und wollte von dort aus mit der Straßenbahn nach Hause fahren. In der „2“ saß ich vorn rechts gleich am Einstieg neben der Fahrerkabine und konnte somit das Verkehrsgeschehen gut beobachten. Kurz vor der Kurve am Engelsplatz zum Tröndlinring mußte die Bahn längere Zeit halten, weil immer wieder Polizeiautos mit Blaulicht und Sirene über die Kreuzung stadteinwärts in Richtung Gerberstraße fuhren. Jetzt sah ich auch, dass die Rechtsabbiegerspur am Engelsplatz provisorisch gesperrt war. Auf der vielbefahrenen Kreuzung regelte ein VP-Kradposten den Verkehr per Hand – regelte ist zuviel gesagt: besser, er sperrte allen Verkehr Richtung Gerberstraße und versuchte die Fahrzeuge in Richtung Zoo oder Dittrichring umzuleiteten. Der Autoverkehr staute sich beträchtlich.

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Bevor meine „2“ endlich nach rechts abbiegen konnte, fuhren nochmals zwei … drei Jeeps der Bereitschaftspolizei mit Sirene und Blaulicht knapp vor der Bahn über die Kreuzung. Solche Fahrzeuge hatte ich bis dahin noch nie gesehen.  – Soviel hektisches Treiben, ein größerer Unfall???  –  An der Haltestelle am „konsument“-Warenhaus stiegen viele Leute zu, es war gerade Geschäftsschluss in der Innenstadt gewesen, die Leute kamen vom Einkaufen oder von der Arbeit.

Endlich ging’s weiter, aber nur ein kurzes Stück, da mußte der Fahrer scharf bremsen, weil von vorn ein grauer Skoda direkt auf die Bahn zufuhr. Aus dem Auto sprang ein Mann im langen grauen Mantel heraus uns wies den Straßenbahnfahrer mit barscher Stimme an sofort in Richtung Gleisschleife an der Breitscheidstraße neben dem Hauptbahnhof einzurücken. Viele Mitfahrer stiegen daraufhin auf halben Weg zur Gerberstraße aus, um mit einer anderen Bahn weiterzukommen. Die Bahn fuhr dann weiter, blieb aber mitten auf der Kreuzung Gerberstraße stehen, nein stecken …

89.10.03Plötzlich sahen wir auf dieser Kreuzung viele Menschen, man hörte auch undeutliche Rufe. Auf Höhe der Nordstraße standen nebeneinander aufgereihte W50 LKW’s und davor waren auf der gesamte Straßenbreite Bereitschaftspolizisten  in Kette aufmarschiert.
Eh, die kamen mir vom frühen Nachmittag irgendwie bekannt vor. Auf der anderen Seite in Richtung Gerberstraße, bis hin zum Hotel Astoria am Hauptbahnhof, drängte sich ein breiter Menschenpulk: Jugendliche, Frauen, Männer verschiedenster Altersgruppen. Beim näher Herankommen konnte ich auch die Rufe besser verstehen:
viersilbige Rufe wie Keine Gewalt!“ “ Neues Forum“ „Gorbi – Gorbi“
und dann stimmte die Menge die Internationale an, mir lief ein Schauer den Rücken hinunter – das klang nach Mut und Verzweiflung: „Völker hört die Signale, auf zum letzten Gefecht. Die Internationale erkämpft das Menschenrecht.
Die letzten drei Worte wurden besonders laut heraus geschrien. Ja, schoss es mir ein, hier geht es um Menschenrechte, auch das für freie Meinungsäußerung und da war ich sofort auf einer Meinungsebene mit den Demonstranten. Zwei Bereitschaftspolizisten auf der Postenkette blickten zu uns Richtung Haltestelle zurück und ich sah weit aufgerissene Augen und entsetzte Blicke. Das waren doch auch nur Wehrpflichtige, die hier hineingeraten waren und die jetzt verzweifelt waren …

Irgendwie bin ich dann wie in Trance über die Wagnerstraße zum Hauptbahnhof gekommen. Unterwegs habe ich wieder die großen schwarzen Riesenschnautzer (vielleicht die vom Nachmittag) gesehen, die mit ihren Hundeführern in Bereitschaft warteten. Ich glaube heute, dass ich die fünfzehn Minuten vom Bahnhof bis nach Haus gelaufen bin, weil immer noch keine Bahnen fuhren. Zu Hause hab ich aufgeregt alles erzählt – einfach unglaublich, was da für Menschenmassen auf dem Ring waren. Und das waren keine zusammengerotteten Rowdies, wie in der Zeitung zu lesen war, sondern Menschen wie du und ich.

Hier mal zwei Auszüge aus dem Strafgesetzbuch der DDR zu den von der Presse zitierten Begriffen § 215 Rowdytum und § 217 Zusammenrottung.
–> beachte (3) Der Versuch ist strafbar.
Das war der Freibrief zur beliebigen Rechtsauslegung und staatlich organisierten Rechtsbeugung.

StrafGB_DDR_215

StrafGB_DDR_217

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