Leipzig, Montag der 13. November 1989
Der Leipziger Montagabend am 13.11.1989 hatte eine entscheidende Bedeutung, weil sich die Frage stellte: kommt jetzt nach der Maueröffnung in der letzten Woche noch jemand zur Montagsdemo auf den Leipziger Ring oder verflachen jetzt die Regime-Proteste?
Eine mögliche Erwartung der DDR-Staatsführung nach der Maueröffnung war, dass die Demonstranten und Regimekritiker in der „Westen“ gegangen sind oder jetzt zu ihren Westverwandten unterwegs waren oder zum Einkaufen in den Westen gefahren sind. Auch durch eine Vielzahl organisierter Foren und Gesprächsrunden sollten Leute in den großen Städten von der Straße geholt werden.
Ist das aufgegangen?
Wir wohnten damals im Osten Leipzigs in der Neustädter Straße und von dort aus konnte man per pedes in gut 15 Minuten in der Stadt sein. Ich musste an dem Abend auch zu Fuß in die Stadt laufen, weil wegen der Montagsdemos keine Straßenbahn über den Ring fahren konnte, es gab sogar einen Extra-Demo-Umleitungs-Fahrplan.
Gegen 19 Uhr bin ich also zu Fuß am Karl-Marx-Platz (heute wieder Augustusplatz) angekommen.
Der Platz war wieder voller Menschen und erneut waren bald etwa 200.000 Demonstranten auf dem Leipziger Ring unterwegs. Ich bin bis zur Fußgängerbrücke (Blaues Wunder) am „konsument“-Warenhaus mitgelaufen und habe dort versucht mit meiner Kamera Bilder vom großen Menschenstrom auf dem Ring aufzunehmen.
Gegen 1/2 8 sah ich von der Fußgänger-Brücke aus, dass plötzlich dichter Nebel (Industrie-Smog) über der Stadt aufzog , es roch nach Schwefel und Phenolen. Später habe ich in der Zeitung gelesen, dass an diesem Abend über 3.000 mg SO2/m³ in der Innenstadt gemessen worden waren – weit über dem [heute] zulässigen Grenzwerten.
Schemenhaft sind auf dem Bild gerade noch die Orientierungstafeln vor der Kreuzung Gerberstraße zu erkennen, die Sicht reichte an dem Abend nicht mal bis zum etwa 500 m entfernten Hauptbahnhof. Eine fast gespenstische Aussicht, die aber auch zeigte, dass nicht nur aus politischen Gründen, sondern auch wegen der maroden Umwelt demonstriert wurde. Die Polizei (Bereitschaftspolizei) hält sich zurück, rechts am Bildrand nur ein Beobachter zu sehen.
Von der Fußgänger-Brücke aus rief das NEUE FORUM über ein Megafon die Demonstranten immer wieder zur Gewaltlosigkeit auf.
Fazit des Abends: Nein, die Grenzöffnung und kleine „Reförmchen“ haben keinen Umschwung der Proteste gebracht, der Wille der vielen Demonstranten zu grundlegenden Veränderungen in der DDR ist ungebrochen.
Beide Aufnahmen mit Exakta-Varex VX, Domiplan 50 mm auf ORWO NP27 (Schwarz/Weiß-Negativfilm).
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Nachtrag am 11. Oktober 2019 , e-Mail mit Betreff:
Dein Blog, Bilder Montagsdemo 1989, der mit dem Megaphon [Titelbild]
Hallo Harald Stein … der mit dem Megaphon vom Neuen Forum bin ich gewesen. Es war damals das erste Megaphon auf einer Demo und die erste Ansprache hatten wir einige Montage vorher auf dem Fahrkartenhäusschen gegenüber dem Hauptpostamt gemacht. Wir hatten den Aufbruch 89 verlesen. Das Megaphon inclusive dem Mikrofon vom Stern-Recorder und dem Batteriegürtel habe ich dem Museum in der Runden Ecke vererbt. Dort ist es ausgestellt, im Altbau der Stasi im ehemaligen Kinosaal dort. Die Ironie dabei, der Lautsprecher stammt aus einer Beschallungsanlage aus einem ZENTRAG-Betrieb. Ich habe dort mit zwei NF-Schaltkreisen A110K in Brückenschaltung einen 15W NF-Verstärker reingebastelt. Aus der selbstgeätzten Leiterplatte sind noch meine Initialen. Die ersten Montagsdemos war der Lautsprecher noch Standardgrau, wie auf anderen Fotos – z.B. vor dem Rathaus zu sehen. Erst später hatte ich ihn schwarz lackiert und mit der Aufschrift NEUES FORUM versehen. …
Ich wohne leider nicht mehr im nun schönen Leipzig, war aber vor kurzem als Zeitzeuge wegen der Demos in Leipzig auf einer Podiumsdiskussion geladen. Komme immer wieder gern nach Leibsch.
Beste Grüße von Frank Deichmann