unterirdische Geschichte

Bestandteile dieser ,,unterirdischen Geschichte“ sind ein Stadtteil-Rundgang, der Elsapark im Leipziger Osten, das Bild eines eisernen Kanaldeckels, ein Blick in den Untergrund und ein spezielles Stück Leipziger ,,Untergrund-Geschichte“.

Handelnde Teilnehmer sind ein abwesender Förderer Willmar Schwabe, ein Anwohner der Elsastraße 16, unser Ferien-Enkel Florian , mein Fotoapparat Sony A57 als verlängertes Auge und ich als Beobachter und Aufschreiber.

Was ich dabei so aufgeschrieben habe?
Schaun Sie doch mal rein …

1. ein Rundgang mit Folgen

Mitte Mai (2019) fand im Gebiet von Neustadt-Neuschönefeld ein Stadtteil-Rundgang unter dem Thema ,,Neustadt-Neuschönefeld – mehr als Eisenbahnstraße“ statt. Unsere Route führte auch von der Kohlgartenstraße kommend zum Elsapark, als einem der letzten Zeugen früherer Rietzschkenauen im Osten Leipzigs. An dieser Stelle habe ich die Gäste an die ,,verschwundene Rietzschke“ erinnert, die heute im Stadtbild kaum noch auffindbar ist, weil sie in den 1890er Jahren überwölbt wurde. Wer weiß da heute schon Genaueres?

An dieser Stelle hat mich Rundgang-Gast Patrick S. (hier kurz P. S. genannt) darauf aufmerksam gemacht, dass sich im Hof seines Wohnhauses in der Elsastraße 16 möglicherweise ein Einstiegsschacht zur überwölbten Rietzschke befinden könnte. Na, das hat mich natürlich interessiert!
Als Anlage einer Mail hat er mir anschließend auch eine Bilddatei vom eisernen Deckel geschickt, siehe oben (sozusagen von P. S. als p.s. – post scriptum 😉  😉 [Quelle #1]
In der letzten Woche hatten wir uns dann zur näheren vor-Ort-Erkundung in der Elsastraße getroffen. Mit von der Partie war auch unser 15jähriger Enkel Florian, der so in seinen (Berliner) Schulferien zu einer fakultativen Geschichtsstunde kommen sollte.

2. visuelle Erkundungen

Zur Vorbereitung der Erkundung hatte ich mich kurz über die Geschichte der Häuser an der Elsastraße und den eventuellen Verlauf der überwölbten (östlichen) Rietzschke informiert.

Die Wohnhäuser an der Elsastraße wurden im Zeitraum 1890 bis 1895 im Rahmen eines ,,sozialen Projekts“ vom Pharmazie-Unternehmer Willmar Schwabe gebaut.
Das Haus Nr. 16  wurde im Jahr 1890 als Mietshaus in halboffener Bebauung mit Tordurchfahrt, Putzfassade und geätzten Treppenhausfenstern errichtet. Es steht in der Kulturdenkmalsliste Sachsen unter der Objekt-ID 09293625. [Quelle #2]

Nach den Angaben im Geoportal Sachsen habe ich die unten links abgebildete Lageskizze zu den Häusern zwischen Elsa- und Rabetpark bzw. Reclamstraße (Bildrand rechts unten) bis zur Berufsschule (Neustädter Str. 1) angefertigt. Auch die Höhenangaben stammen aus dem Geoportal. [Quelle #3]
In meiner Skizze habe ich außerdem in Rot die Position vom Kanaldeckel 1 im Hof Elsastraße 16, den Kanaldeckel 2 vor der Tordurchfahrt vom Haus Elsastraße 16 mitten auf der Straße und einen vermuteten Kanaldeckel 3 im Bereich des Grundstücks Rabet 16 eingezeichnet – Nr. 2 und 3 spielen später noch eine kleine Nebenrolle.

Der Blick unter den Kanaldeckel 1 auf dem rechten Bild zeigt, dass der hier sichtbare Einstiegsschacht zum Ersten relativ schmal angelegt ist (etwa 50 cm x 40 cm) und zum Zweiten die Tritt-Sprossen zum Teil schon durchgerostet sind. Unten am Grund sieht es nass aus und müffelt nach allem Möglichen …

Von einem unkontrollierten eigenmächtigen Einstieg ist auf jeden Fall abzuraten!

Fototechnisch hatte ich mich aber vorbereitet: ausgerüstet mit meinem Einbeinstativ (1,5 m lang), an die Kamera angeschraubt, Blitzlicht (allerdings nur mit Füll-Blitzlicht) aktiviert, Entfernung auf etwa 3 Meter eingestellt und manuell Fokus aktiviert und Selbstauslöser auf 10 s eingestellt, habe ich die Kamera nach dem Start letztendlich in die Einstiegsöffnung vom Kanal hinabgelassen – Blitz! Erstmal zum Test in der Aufnahmerichtung (nordöstlich) zu den Rabethäusern. Nach etwa 10 Aufnahmen hatte ich den Bogen so etwa raus – ein Stück Bruchsteinmauer ist rechts in der Bildmitte zu sehen, oben Ziegelgewölbe, unten ein schmaler Betonstreifen und rechts eine Spinnenwebe – sonstige Tiere hab ich nicht gesehen oder gehört.

Es handelt sich offenbar um einen Teil der überwölbten östlichen Rietzschke. Sie wird bis heute als Abwassersammler Ost genutzt und fließt Richtung Klärwerk Rosenthal.

Nach den erfolgreichen Aufnahme-Versuchen habe ich dann an der Kamera die Aufnahmeentfernung auf etwa 5 bis 7 Meter eingestellt und den Apparat in die nach Lageskizze vermutete Zufluss- und Abflussrichtung geschwenkt. Unter diesen Amateurbedingungen sind aus meiner Sicht folgende sehr aussagekräftigen Bilder entstanden:

An der Aufnahmestelle müßte der überwölbte Abschnitt etwa 2 Meter hoch und 3 Meter breit sein. Zusätzlich zum bereits gezeigten Quer-Bild sieht man bei den Längs-Bildern neben den Bruchsteinmauern, oben das Ziegelgewölbe und unten eine betonierte Abwasserrinne. In der Abwasserrinne fließt graugelbes Mischabwasser, also alles was so aus Haushalt und Sanitär kommt und falls es mal regnet, dann auch Regenwasser.

Beim genauen Hinschauen fällt auf dem linken Bild, ziemlich am Ende des sichtbaren Bereichs, oben rechts am Gewölbe, ein kleiner Lichtschein auf. Das ist kein Aufnahmefehler, sondern das Licht, das durch den Kanaldeckel (Nr. 2) auf Höhe der Elsastraße in den Kanal fällt (!) Das Gleiche kann man auch bei der rechten Aufnahme am Gewölbe oben links sehen – das könnte ein weiterer Einstiegsschacht (Kanaldeckel Nr. 3) ungefähr in Höhe des Grundstücks Rabet Nr. 16 sein.

Auf den ersten Blick sieht das hier unten ja noch relativ solide und funktionsfähig aus – Frage: wie alt ist das eigentlich?

3. historische Erkundungen

Nach der ,,unterirdischen Geschichte“ deshalb nun noch ein paar Zeilen zur ,,Untergrund-Geschichte“. Die (östliche) Rietzschke gab es als Fluss und mit den Jahren abnehmend als Flüßchen in offener Form nur bis in die 1880er Jahre. Mit zunehmender Bautätigkeit im Leipziger Osten wurde immer mehr von Abwässern belastet und überwölbt.
Zum Thema Rietzschke-Überwölbung in der Neustadt-Neuschönefelder Gegend habe ich folgende Literaturstellen gefunden:

  • Reudnitzer Tageblatt, Nr. 70, Montag, 10. Mai 1886
    Die Königliche Amtshauptmannschaft Leipzig und der Königliche Kommissar für die Berichtigung der Rietzschke bei Reudnitz (welch toller Posten!) haben hier in einem Regulativ zunächst die Rahmenfestlegungen zur Kanalisierung und Überwölbung der Rietzschke festgelegt:
    Regulativ, die Errichtung von Bauten an der Rietzschke in den Fluren Reudnitz, Volkmarsdorf, Neuschönefeld und Neustadt, sowie die Überwölbung der berichtigten Rietzschke und die Einführung von Schleusen und Abzugsgräben in dieselbe betreffend.
    §3 Das Sohlengewölbe hat regelmäßig 0,5 m Stich zu halten, ist mit Bruchsteinen auf einer Kies-, bei schlechtem Untergrunde Betonboden abzupflastern und sind die Zwischenräume des Pflasters mit Zementmörtel auszufüllen, wie sonst alles Mauerwerk mit Zementmörtel zu fugen ist.
    §7 Aller 20 bis 30 m und möglichst auf der Straße oder im Hofe, niemals aber in Durchfahrten, sind Reinigungsschrote mit eisernem Deckel nach besonderer Vorschrift herzustellen. [Quelle #4]

In den §§ 3 und 7 sind die wesentlichsten Bauanforderungen benannt: Verwendung von Bruchsteinen, Mauerwerk, Zementmörtel und Beton, sowie das Anlegen von Reinigungsschroten mit eisernem Deckel. Daher stammen also die im regelmäßigen Abstand von 20 bis 30 Metern angebrachten Kanaldeckel Nr. bis 3 und vermutlich  weiterer im gleichen Abstand angelegter Reinigungsschrote, die heute aber nicht alle zugänglich sind.
Was ist ein (Reinigungs-) Schrot?
In einer älteren Oekonomischen Encyklopädie von J. G. Krünitz (1773 bis 1858) habe ich zum heute nicht mehr so gebräuchlichen Wort Schrot folgendes gefunden:
Im Bergbau nennt man ein Gevierte von Zimmerholz, womit ein Schacht ausgezimmert wird, ein Schrot.
Ferner heißt das Gebäude an dem Schachte eines Bergwerkes, welches das Einfallen des Gesteins verhütet, ein Schrot …
[Quelle #5]
Reinigungsschrot – heute würde man vielleicht eher Wartungsschacht dazu sagen.

  • Leipziger Stadt- und Dorfanzeiger, Nr. 157, Dienstag, 9. Juli 1889
    Neu-Leipzig.
    Herr Dr. Wilmar Schwabe entwickelt auf seinem zwischen der Kohlgarten-, Rathaus-, Constantinstraße und dem Rabet liegendem Grundstück eine ganz ungemeine Bauthätigkeit. Von der Kohlgartenstraße wird auf seine Kosten eine Straße nach dem Rabet aufgeschüttet, kanalisiert und die Rietzschke, von der Rathhausstraße bis zur Schule überwölbt.
    Frei ist dieser übelriechende Wassergraben nur noch von der Constantin- bis zur Gustav-Harkort-Straße.

[Quelle #6]

Aus diesem Zeitungsartikel geht hervor, dass die Überwölbung des Ritzschken-Abschnitts zwischen der Rathhaus- (heute: Reclam-) Straße und der Neuschönefelder Schule (heute: Berufsschule an der Neustädter Straße) bereits im Jahr 1889 erfolgte und vom Unternehmer Willmar Schwabe finanziert wurde. Bei der hier genannten Gustav-Harkort-Straße handelt es sich um die heutige Jonasstraße.

Damit wird dieser Kanalabschnitt der überwölbten Rietzschke in diesem Jahr bereits 130 Jahre alt!

  • Verwaltungsbericht der Stadt Leipzig für das Jahr 1890, Duncker & Humblot 1892 Seite 421 unter dem
    Punkt IIa, 2. Schleusenbauten
    Auf Kosten der Stadt Leipzig wurden im Jahr 1890 folgende Schleusenbauten ausgeführt
    1) Die Überwölbung einer 724,30 m langen Strecke der Rietzschke in L.-Reudnitz und L.-Anger-Crottendorf mit einem Kostenaufwande von 105.349 Mark und 45 Pfennige. …
    [Quelle #7]

Ein Jahr später erfolgte unter städtischer Regie die Überwölbung der restlichen noch offen fließenden Rietzschke im Bereich von Reudnitz,  und Anger-Crottendorf. Dabei wurden natürlich auch das oben genannte Regulativ angewendet. Es könnte aber durchaus sein, dass die Bauausführung im Detail anders aussah. Vielleicht gelingt es mir auch von solchen Kanalabschnitten Bilder zu bekommen …

Zugabe

Mit meinem Bildbearbeitungsprogramm Adobe Photoshop Elements 14 konnte ich aus den Einzelbildern ein 180°-Panoramabild des überwölbten Abwasserkanals zusammenstellen. Auf diesem Bild ist auf der rechten Seite der Abwassersammler-Zufluss und links der -Abfluss zu sehen.

noch eine Anmerkung:

Die gut gemeinte Forderung: ,,Rietzschke ans Licht!“ würde nach den hier in Beitrag gewonnenen Erkenntnissen bedeuten, dass man einen Abwassergraben offenlegen würde. Alternativ müßte eine ,,saubere“ Rietzschke nur in einem völlig neuen Flussbett, parallel zum überwölbten Abwassersammler, entstehen.
Das halte ich allerdings für kaum durchführbar.


Quellenangaben:

  • Quelle #1:   Foto von einem eisernen Kanaldeckel im Hof des Grundstücks Elsastraße 16 im Ortsteil Leipzig Neustadt-Neuschönefeld, von Patrick S. zur Verfügung gestellt – Danke!
  • Quelle #2:   Elsastraße 16 in der Liste der Kulturdenkmale von Neustadt-Neuschönefeld, online: https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_Kulturdenkmale_in_Neustadt-Neusch%C3%B6nefeld
  • Quelle #3:   Geoportal – Sachsenatlas, online: https://geoportal.sachsen.de/cps/index.html
  • Quelle #4:   Reudnitzer Tageblatt, Nr. 70, vom Montag, den 10. Mai 1886, recherchiert im Stadtarchiv Leipzig (1988)
  • Quelle #5:   Oekonomische Encyklopädie von J. G. Krünitz, 1773 bis 1858 in 242 Bänden, S. 593  Begriff Schrot, siehe online: http://www.kruenitz1.uni-trier.de/
  • Quelle #6:   Leipziger Stadt- und Dorfanzeiger, Nr. 157, vom Dienstag, den 9. Juli 1889, recherchiert im Stadtarchiv Leipzig (1988)
  • Quelle #7:   Verwaltungsbericht der Stadt Leipzig für das Jahr 1890, Duncker & Humblot 1892 Seite 421 unter dem Punkt II a, 2. Schleusenbauten, recherchiert in der Handbibliothek des Stadtgeschichtlichen Museums Leipzig

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