
Die Margaretenstraße ist eine kurze Anliegerstraße im Leipziger Osten, gleich hinter dem Rabetpark zwischen der Reclamstraße und dem Elsapark gelegen.
Besonderheiten:
+ sie ist mit nur 99 Meter Länge eine der kürzesten Straßen im Leipziger Osten und
+ sie ist eine der letzten Leipziger Buckelpisten, die aus unbehauenen größeren und kleineren bunten Feldsteinen, sogenannten Lesesteinen, besteht, siehe Bild links.
Aber, auf dem kurzen Stück kann trotzdem viel passieren.
Davon möchte ich hier mal ein Stück ,,ausgraben“ und zeigen …
1. Erst-Betrachtung
Zuerst ein kurzer Zeitblick zurück in die jüngere Vergangenheit – in die Zeit zu Beginn unseres neuen Jahrtausends. Leider kann ich Euch dazu kein eigenes Bild von der Margaretenstraße bieten, weil ich in dieser Zeit dort nicht fotografisch aktiv war. Aber, der Internetdienst von Google-StreetView bietet auf seinen Seiten aktuell noch Bilder vom August 2008 an und darauf greife ich deshalb im Bild rechts zurück.
In der Margaretenstraße gab es bereits zu diesem Zeitpunkt nur noch wenige Gebäude:
– auf der linken Straßenseite ist vorn das rekonstruierte Eckgebäude Nr. 8 zu sehen,
– daneben die Nr. 6 (inzwischen auch rekonstruiert),
– es folgt eine Häuserlücke (mit einem grünen Baum), in der früher das Haus Nr. 4 stand,
– etwa in der Bildmitte hinten ist der Neubau Nr. 2 zu sehen und
– dahinter befindet sich die Freifläche des früheren Eckgebäudes Reclamstr. 41.
Auf der rechten Straßenseite sieht man nur noch Wiesen und Bäume – früher war die Straße hier auch dicht bebaut:
– dort standen die Gebäude der Margaretenstr. 1, 3 und 5,
– flankiert links von der Reclamstr. 39 und rechts der Elsastr. 8.
Heute eine große Brachfläche, vielleicht wird mal ein Stück Park draus …
In der Bebauung hat sich in dieser Straße bis heute (fast nichts) geändert,
deshalb als Nächstes ein kleiner Rückblick….
2. Bau-Boom im Rietzschketal
Das kleine Flüßchen Rietzschke war vor Zeiten, und da kann man schon ein paar tausend Jahre annehmen, wasserreicher, bildete sumpfige und fruchtbare Niederungen. Noch um das Jahr 1850 erstreckte sich zwischen der Reudnitzer Kohlgartenstraße und den Gemeinden Neuschönefeld und Volkmarsdorf eine kleine, bis zu 200 m breite Aue mit dem Flüßchen Rietzschke (genauer: der östlichen Rietzschke).
Der Auenboden war fruchtbar, deshalb wurde hier auch Kohl in Gärten angebaut, und das Geschäft mit Stadt und Umland florierte.
Links unten im Bild könnt Ihr dieses Gebiet zwischen der Kohlgartenstraße, der Flussaue mit der Rietzschke und den südlichen Randweg von Neuschönefeld (die spätere Straße Rabet) gut erkennen.
Das änderte sich erst Anfang der 1890er Jahre, als auch diese früheren Talflächen bebaut wurden. Im Zeitungsausschnitt oben rechts wird von einer Reudnitzer Gemeinderatssitzung berichtet, in der es auch um die Benennung von neuen Straßen geht:
der von Dr. Schwabe gebauten Elsastraße und der vom Brauereidirektor Friedrich Reinhardt (Riebeck & Co) erbauten Margarethenstraße (hier zuerst noch mit ,th‘ geschrieben). [Quelle #1]
Anmerkungen:
– Aha, das schon fast historische Feldstein-Pflaster haben wir also dem Brauereidirektor von Riebeck & Co. zu verdanken. 😉
– Die Lagebeschreibung zur Margarethenstraße in dem Zeitungsartikel ist nicht ganz korrekt – sie verbindet die Rathhaus- mit der Elsastraße.
Die Bebauungs-Reihenfolge an der Margaretenstraße läßt sich anhand der Eintragungen in den Leipziger Adreß-Büchern (LAB) nachvollziehen.
Dort erfolgte der erste Eintrag zur Margarethenstr. 1 im LAB für das Jahr 1889, als Hausbesitzer ist der Schlossermeister Landmann angegeben.
Weil die Adreßbücher damals immer gegen Ende des vorhergehenden Jahres erschienen sind, kann man schlussfolgern, dass dieses erste Haus bereits bis Ende 1888 bezogen wurde.
Bereits ein Jahr später, im Jahr 1889 (Eintrag im LAB 1890), waren auch die Häuser
Nr. 2, Besitzer ist der Bäckermeister Liebald und
Nr. 6 mit Hintergebäude (HG), Besitzer ist der Steinmetzmeister Spaete, bezogen und die Häuser
Nr. 3 bzw. 5, Besitzer Bauer & Uhlitzsch, befanden sich in Bau.
Bis Ende des Jahres 1890 waren alle Häuser in der Margaretenstraße (gemäß LAB für das Jahr 1891) gebaut und bezogen:
Nr. 1 mit HG, Bes. Landmann, R., Schlossermeister,
Nr. 3 mit HG und 5, Bes. Bauer & Uhlitzsch,
Nr. 2 mit HG, Bes. Liebald, F., Produktenhändler/ Bäckermeister,
Nr. 4, Bes. Kutscher & Franz und
Nr. 6 mit HG, 8 Bes. Spaete, H., Steinmetzmeister.
Anmerkung: mit der großen Rechtschreibreform im Jahr 1905 wurde die Margaretenstraße ab sofort ohne ,th‘ – nur noch mit ,t‘ geschrieben.
In den sieben Häusern mit fünf Hintergebäuden gab es laut LAB 1908 in der Margaretenstraße über 160 Wohnungen.
Rechts habe ich den entsprechenden Stadtplan-Ausschnitt aus dieser Zeit eingefügt.
Damit waren auch die Hinterhöfe an der Margaretenstraße fast vollständig bebaut. Ein Gewerbegebäude auf dem großen Grundstück der Margaretenstr. 6 kam später noch hinzu und ist in den Adressbuch-Eintragungen ab dem Jahr 1912 nachweisbar. Aber dazu später …
Übrigens wurde fast im gleichen Zeitraum auch die oben im Zeitungsartikel erwähnte Elsastraße bebaut – dazu könnt Ihr im Blog-Beitrag ,,Wer war Konstantin?“ nachlesen [siehe unter Quellenangabe].
3. Bau – Steine – und Beschwerden
Etwa 50 Jahre nach der Bebauung der Margaretenstraße gab es im Sommer des Jahres 1939 nach Protokollen in den baupolizeilichen Akten erste Beschwerden über Grundstückssenkungen, Risse im Mauerwerk und an Schornsteinen mehrerer Gebäude.
In einem baupolizeilichen Gutachten zum Bauzustand des Hauses Margaretenstr. 4 heißt es unter anderem:
,,Das Gebäude, sowie die umliegenden sind auf den Niederungen der ehem. Rietzschke gebaut und hat einen sehr schlechten Baugrund. Die Vorder- und Hinterfront sind im Ganzen um 20 cm nach den Mittelwänden zu oben eingezogen. An der Vorderfront haben sich verschiedene Pfeiler zum Teil in der Mitte des Grundstückes gesetzt. …
Die Treppenhauswände, sowie die Trennwände haben sich zum größten Teil gesetzt und zeigen von den Außenwänden nach der Mitte zu unter 60° und auch senkrecht, starke Risse von 8 bis 12 mm. …
Im Keller sind die Gewölbe an den gesetzten Wänden teils gerissen, der Kellerfußboden fällt ebenfalls wie in den Geschossen und zeigen sich an den Wänden entlang Risse im Pflaster.“ [Quelle #2]
Anfang des Jahres 1943 gab es erneut Beschwerden der Einwohner über auftretende Schäden. Offenbar geschah aber infolge der Prämissen während und nach dem 2. Weltkrieg nur in dringenden Fällen etwas, d.h. in diesem Fall eher nichts. Während des Krieges wurden die großen Eckhäuser Reclamstr. 39 und 41 eingangs der Margaretenstraße zerstört. Die eigentlichen Häuser der Margaretenstraße blieben vorerst unversehrt.
Das änderte sich erst im Frühjahr 1953, als im Rahmen einer Besichtigung vor Ort zur Situation in den Grundstücken Margaretenstr. 2, 4, 6 und 3 erhebliche Mängel in der Bausubstanz festgestellt wurden:
,,Die Häuser in der Margaretenstr. sind durchweg um die Jahrhundertwende erbaut und haben bis kurz nach Kriegsende fast keine Setzungserscheinungen gezeigt. In den letzten 3 – 4 Jahren nahmen diese Setzungen in erschreckendem Maße zu, sodaß für die Standfestigkeit einiger dieser Häuser Bedenken bestehen.
Es erfolgte zunächst die Besichtigung der Kellerräume.
Die straßenseitige Hauswand neigt nach dem Haus, Margaretenstr. 6, zu während beide Mittelwände des Hauses hauptsächlich in der Mitte abgesunken sind. Als größte Setzung wurde 40 cm angegeben.
Die Gewölbebogen sind im Scheitel und an den Kämpferwiderlagern abgerissen und verschoben. An anderen Stellen haben die Gewölbebogen keinen Anschluß mehr an die Außenwände.
Es wurden dann die beiden Wohnungen im Erdgeschoß besichtigt. Der Fußboden hat sich stellenweise über 20 cm einseitig gesenkt, sodaß Betten, Tischbeine, Schrankbeine mit Ziegelsteinen und Bohlen unterlegt werden mußten, um diese aufstellen zu können. Einige Türrahmen haben in den oberen Ecken anstatt 90° nur noch 70°, d.h. die Türen sind vollkommen windschief geworden.“
Interessant sind in diesem Zusammenhang auch die Ergebnisse von geologischen Bohrungen im Bereich der Margaretenstraße, die das folgende interessante Bodenprofil (von oben nach unten) ergaben:
,,– etwa 2,0 m aufgeschütteter Boden,
– 1,20 m Moor,
– darunter Geschiebelehm,
– sodann Kies,
– von 4,70 m ab wasserführender Sand,
– der Grundwasserspiegel steht (angeblich) bei etwa 4 m.“ [beides Quelle #2]
Kurz gesagt: katastrophale Zustände!
In einer Besprechung des Leipziger Stadtbezirksamtes im März 1953 hieß es zu den Mängeln in der Bausubstanz und den untragbaren Zuständen:
,,Kollegin H. bringt zum Ausdruck, daß die Plankommission keinesfalls die Genehmigung zum Abbruch der Gebäude geben würde, weil dies mit dem noch zu verzeichnenden Mangel an Wohnungen nicht zu vereinbaren wäre.“
Vorerst mussten die Bewohner in diesen ,,Wohnungen“ ausharren – erst Anfang 1954 wurde das Grundstück Margaretenstr. 4 schließlich geräumt und im Frühjahr 1959 abgebrochen.
Anmerkung: Die Gebäude der Margaretenstraße im Leipziger Osten standen offenbar mit ihren substanziellen Problemen nicht allein auf bautechnisch schwierigen Rietzschketal-Auenboden. Wie bereits im Blog-Beitrag über das Luther-Dreieck berichtet, hatten z.B. auch solidere Gebäude an der Kohlgartenstraße mit dem Bauuntergrund/ Grundwasser zu kämpfen:
In einer bautechnischen Untersuchung aus dem Jahr 1984 heißt es:
,,Bei sehr hoher Wasserführung steigt das Wasser der Rietschke so an, daß es teilweise zu Wassereinbrüchen in Kellern nahe gelegener Gebäude kommt. Ein Wassereinbruch im betreffenden Gebäude ist nicht bekannt. Vorhandenes Wasser steigt lediglich im Mauerwerk hoch… „ [Quelle #3]
Nachdem ich mit der ,,Erst“-Betrachtung begonnen hatte, wechsle ich jetzt die ersten beiden Buchstaben und komme damit zu einer …
4. Rest-Betrachtung
In der Margaretenstraße hatte sich nach der oben beschriebenen Misere und dem Abriss des Gebäudes Nr. 4 bis zur Wende nur wenig bezüglich der Bausubstanz getan. Das sieht man auch an der Bebauungsskizze (unten links), die ich mithilfe eines alten Projektplans aus dem Jahr 1975 gezeichnet habe. In der Skizze gab es bis 1990 eigentlich nur am Rabet Änderungen. Dort entstand ein erster Teil des heutigen Rabetparks.
Erst nach der Jahrtausendwende, ab dem Jahr 2003, kam schließlich wieder Bewegung ins Baugeschehen an der Margaretenstraße. Im Dezember 2003 wurde das Hinterhaus Nr. 6b abgerissen. Der Projektentwickler IFM (im Auftrag und mit Förderung des Amtes für Stadterneuerung und Wohnungsbauförderung/ASW) beschäftigte sich in diesem Zeitraum mit einem Projekt ,,Margaretenhof„. Die Wohnungsgenossenschaft Pro Leipzig eG stellte [im Februar 2004] einen Gestaltungsvorschlag für die gewonnene Freifläche zur Diskussion, der durch das Landschaftsplanungsbüro fagus erarbeitet wurde. [Quelle #4]
In der Bebauungsskizze aus dem Jahr 1975 habe ich die betreffenden Grundstücksbereiche rot umrandet. Es ging dabei um die Grundstücke Margaretenstraße 2 bis 6 mit ihren Hinterhäusern und Innenhöfen.
Zur Realisierung des Projekts ,,Wohnen im Margaretenhof“ wurde Ende des Jahres 2006 die Saxonia Loft GmbH gegründet, die sich als künftiger Bauherr mit dem Erwerb der betreffenden Grundstücke sowie der Verwaltung von Grundbesitz und Kapital beschäftigte. Nach Durchführung der anfallenden Arbeiten wurde diese Gesellschaft Mitte 2009 wieder liquidiert und schließlich im darauf folgenden Jahr wieder gelöscht. [Quelle #5]
Im Zug der Bauarbeiten wurde das alte Fabrik-Hinterhaus Margaretenstr. 6c saniert. „Das alte Industriegemäuer mit teils riesigen Fenstern eignet sich ideal für Lofts“, schwärmte der Architekt Frank Eilmann. [Quelle #4]
Dieses Gebäude ist oben im rechten Bild zu sehen, von mir im Dezember 2018 aufgenommen.
Augenfällig ist auf dem Klinkergebäude in der Bildmitte ein vertikal angebrachter Schriftzug ,,KOFFERFABRIK SAXONIA„.
Was es damit auf sich hat bzw. haben könnte, dass möchte ich Euch in einem zweiten Teil zur Margaretenstraße im Leipziger Osten zeigen …
Literatur- und Quellenverzeichnis:
Literatur
Leipziger Adreß-Bücher (LAB) der Jahre 1889 bis 1908
eigene Kartenskizzen vom Leipziger Osten (1850, 1975)
eigene Stadtpläne von Leipzig (1908, 1956)
Verweis auf eigene Blog-Beiträge:
– Wer war Konstantin? (über die Bebauung der Elsastraße ab 1887), vom August 2019
– Luther-Dreieck – Reudnitz 3 (mit bautechnischen Untersuchungen im Randgebiet der Rietzschke an der Kohlgartenstraße) vom März 2021
Quellen
Quelle #1: Leipziger Tageblatt und Anzeiger, vom Samstag, den 2. Juni 1888, Seite 6 über die 13. Reudnitzer Gemeinderatssitzung
Quelle #2: Stadtarchiv Leipzig, baupolizeiliche Akten zum Haus Margaretenstr. 4, BauAkt Nr. 21635 und 21636 (Gutachten des Bauaufsichtsamtes der Stadt Leipzig)
Quelle #3: Stadtarchiv Leipzig, baupolizeiliche Akten zum Haus Kohlgartenstr. 31b (BauAkt 23595, Gutachten)
Quelle #4: Stadtteilmagazin Leipziger Osten, Ausgaben März 2004 (S. 5: Am Margaretenhof geht es Schritt für Schritt voran), Juli 2004 (S. 4: Großzügige Lofts und Maisonetten in früherer Fabrik) und Juni 2009 (Wer will eigentlich in einer alten Kofferfabrik wohnen?)
Quelle #5: Profilseite der Saxonia Loft GmbH – Projekt Wohnen im Margaretenhof – Registernummer HRB 22836 am Amtsgericht Leipzig
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